„Der Todesgeist, wie man hier sieht. Wir hätten Shadrach für tot gehalten, wäre nicht bekannt, dass misslungene Beschwörungssiegel sich nicht in die Erde brennen.“ Sie deutete mit dem Finger darauf, um ihm die Brandspuren im Boden noch einmal zu zeigen.
Doch Nemo wollte das nicht sehen. Er schüttelte den Kopf, schloss die Augen.
Zehnter Lapsakuu 1732. Ein Donnerschlag.
Nemo wurde in jenem Moment eine Menge bewusst und es traf ihn mit einem Schlag. Der Geist in seiner Küche und das Abkommen mit ihm – woher wusste Shadrach, wie man einen Geist beschwor? Es war verbotenes Wissen, es war geheim. Niemand wusste das. Niemand wusste das.
„Ich muss sagen, dass ich darauf gehofft hatte, dass Sie nichts davon wissen. Natürlich wird das Gericht Sie noch genauer dazu befragen, das muss Ihnen bewusst sein.“
Nein, Nemo war gar nichts bewusst, nicht ein kleines bisschen. Denn er wusste, was ein Pakt mit einem Geist bedeutete – er wusste, was es für Shadrach vor dem hostischen Gesetz bedeutete und es machte alles so viel Sinn, dass Nemo schlecht wurde. Kein Wunder, dass Shadrach aus dem Land hatte fliehen wollen. Kein Wunder, hatte er kein Bedürfnis, länger in Hostrimaa zu bleiben. Nemo war so dumm, so unglaublich dumm.
„Ich muss Sie an dieser Stelle jedoch darauf hinweisen, dass laut Paragraph 172 des Grundgesetzes die Ausführung einer Geisterbeschwörung zu den verbotenen magischen Handlungen ohne Recht auf Gnade gezählt wird.“
Ohne Recht auf Gnade. Nemo wusste, was das bedeutete, er wusste es ganz genau – dieser Geist hatte es selbst erwähnt. Was brächte ihm denn ein Pakt mit Nemo, das hatte er gefragt und sich offenbar noch lustig dabei gefühlt, weil er ganz genau wusste, was vor sich ging, wo Shadrach war und was er getan hatte.
„Der Prozess ihres Bruders wird sicherlich lang werden, nicht zuletzt durch seinen Status als Clanmitglied, vor allem aber sein geringes Alter, das wird international durch die Presse gehen und die Union wird sich einmal mehr darauf stürzen.“ Major Maliina seufzte und sie sollte einfach nur ruhig sein, verschwinden und sich am besten einfach in Luft auflösen.
Ohne Recht auf Gnade.
Shadrach würde die Todesstrafe bekommen und Nemo war Schuld daran.
Nicht der Geist der Eitelkeit und auch nicht der Geist des Todes. Nemo war Schuld daran. Er hatte seinen Bruder nicht gehen oder sich erklären lassen. Er hatte dafür gesorgt, dass das Militär ihn in die Finger bekam. Einfach seine eigene Bitterkeit überhand nehmen lassen wegen des Todes seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters und jetzt würde er auch noch seinen Bruder verlieren, erneut, für immer.
Nemo wurde heiß, übel. Er krümmte sich über den Tisch, versuchte, seine Atmung zu regulieren. Es funktionierte nicht, stattdessen wurde sie nur schneller, flacher. Er wollte schreien und seine Augen brannten, aber es ging nicht weg, selbst wenn er blinzelte.
„Brauchen Sie einen Moment Auszeit?“
Er konnte keine Reaktion dazu geben – sein Körper bewegte sich nicht und seine Gedanken kreisten und kreisten.
Warum hatte er Shadrach sich nicht einfach erklären lassen? Gewartet, bis später. Natürlich hatte er nicht auf offener Straße über einen Geisterpakt reden wollen. Natürlich nicht. Nemo hatte nur an sich gedacht und seine verletzten Gefühle und seine Nostalgie; es würde nie wieder so sein wie früher, nie wieder, es würde nicht zurückkommen und er war allein und er würde allein sein und nichts würde sein wie es sein sollte und egal wie er wollte, keiner würde zurück kommen. Es war seine Schuld.
Major Maliina zog die Photographien vor ihm weg und packte sie zurück in die Akte. Er merkte das, denn er bekam alles mit. Nichts entging ihm, aber alles war fern und rauschte und sein Kopf tat weh und ihm war schlecht.
Irgendwann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Atmete tief durch, langsam, auch wenn es sein Herzrasen nicht zu beeinflussen vermochte. Erst jetzt liefen ihm Tränen die Wangen hinab. Er schluchzte nicht. Er hätte gar keine Energie dazu gehabt.
Die Tür öffnete sich und Major Maliina rief jemanden heran.
„Wollen Sie kurz ins Bad, Milius?“
Vermutlich nickte er, denn gleich darauf zog sie ihn auf die Beine und lotste ihn zu einem Soldaten, in dessen Gesicht Nemo nicht schaute, denn er wollte in gar kein Gesicht sehen, von niemandem, schon gar nicht seinem eigenen, als er dann im Bad war.
Nemo öffnete das Klo und schloss es wieder, als er merkte, dass seine Übelkeit nicht in Erbrechen resultieren würde. Also setzte er sich einfach nur auf den Deckel, vergrub das Gesicht in den Händen. Konzentration, Fassung bewahren. Er hätte fast gelacht bei dem Gedanken, denn er hatte in seinem Leben vermutlich noch nicht einmal Fassung gezeigt. Er war ein Witz und alle wussten es.
Nach einer Weile stand er auf und ging zum Waschbecken, um sich eine Ladung Wasser ins Gesicht zu hauen. Gleich darauf kam eine zweite, noch kälter. Er machte den Fehler und schaute in den Spiegel. Er war ein jämmerliches Stück Scheiße.
Nemo wischte sich mit dem Handtuch das Gesicht trocken. Wie sollte er nachher vor Tarja stehen? Es gab nichts zu erklären, außer dass er ein weinerlicher Waschlappen war, der seine halbe Gehirnzelle nicht aktivieren konnte, weil er selbst dafür zu dumm war.
Wie sollte er jemals wieder vor Shadrach treten? Und wann? Im Gerichtssaal, wenn sie darüber sprachen, wie viel Zeit vergehen würde, bis sie ihn hinrichteten? Vielleicht. Vielleicht ließ sich etwas machen – das Gesetz war alt, Shadrach war jung. Aber nein, nein. Warum. Warum sollte etwas geändert werden, nur weil ihre berüchtigte Familie so klein war? Sie waren ja überhaupt erst der Grund, warum es dieses Gesetz gab – es war alles so lächerlich.
Plötzlich ging der Alarm an. Ein lautes Piepen, dreimal hintereinander, dann mit etwas Abstand erneut.
Verwirrt trat Nemo aus dem Bad hinaus, schaute zu dem Soldaten, der Wache schob, doch der bewegte sich nicht, stand nur still da. Irritiert sah er dennoch aus, auch wenn Nemo sich nicht traute, nachzufragen, auch nicht, als der Soldat ihn zurück zum Verhörraum brachte. Major Maliina war nicht in Sichtweite und so warteten sie und warteten. Irgendwann, als Nemo dachte, ihm würden gleich die Trommelfelle platzen, hörte der Alarm tatsächlich auf, doch Ruhe kam nicht in das Gebäude. Überall wuselten Angestellte des Militärs herum und Igvet Valen empfingen lautstark Nachrichten.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Frau Major wieder auftauchte. Nemo entdeckte sie am Ende des Ganges und sie lief schnell und bestimmt auf ihn zu. Unter dem Arm trug sie noch zwei weitere Akten und mit einem Handwink ließ sie den Soldat zurück treten. Nemo fühlte sich nackt.
„Folgen Sie mir“, wies sie Nemo an und er versuchte, so militärisch wie möglich zu reagieren, fand aber nicht die Kraft dazu. „Sie werden über Nacht hier bleiben.“
Er schaute auf, während er ihr nach stolperte. Natürlich. Natürlich blieb er hier. Und wenn es nur zur Strafe war. Niemand mochte Leute, die ihre eigenen Geschwister an die Justiz verrieten.
„Wir haben Ihre Cousine kontaktiert und Ihren zweiten Notfallkontakt. Das wird keine einfache Woche für Sie.“
Er wusste nicht, wer sein zweiter Notfallkontakt war. Aber er verdiente es, hierzubleiben.
Major Maliina blieb stehen und Nemo lief fast in sie hinein. Obwohl sie eine große Frau war, war sie immer noch ein paar Zentimeter kleiner als Nemo - dennoch fühlte er sich winzig neben ihr.
„Ich glaube nicht, dass Sie etwas damit zu tun haben, aber auch ich habe Regeln, an die ich mich halten muss, Milius“, sagte sie dann. „Sie werden über Nacht hier bleiben und wir können nicht sagen, wann wir Sie wieder gehen lassen können.“
Ein Atemzug Pause.
„Wir wissen nicht, wie es geschehen konnte, aber...“
Nemo wollte nicht hier bleiben.
„Aber Ihr Bruder ist verschwunden.“