Das Stimmengewirr der Schüler hallte laut in Darias Ohren wieder. Die Jugendlichen strömten aus den Schulzimmern und machten sich plaudernd auf den Weg zu ihrer nächsten Stunde.
Den Rucksack über der Schulter verliess Daria das Englischzimmer, die Kapuze ihre viel zu grossen Hoodies tief in die Stirn gezogen. Eine Gruppe Jungs drängelte sich an ihr vorbei und stürmte grölend die Treppe hinunter, die Mädchen hatten sich in Grüppchen zusammengetan und unterhielten sich.
Daria hielt sich stets ein paar Schritte hinter den anderen, als sie ihrer Klasse zwei Stockwerke nach unten folgte, wo sie gleich Geschichte hatten. Das Mädchen fühlte sich nicht wohl, wenn sie von so vielen andern Leuten umgeben war und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst.
Sie sehnte das Klingeln der letzten Stunde so sehr herbei, dass es schon beinahe weh tat. Sie wollte nicht lieber, als endlich aus diesem schrecklichen Gebäude heraus, irgendwo hin, wo sie alleine war. Wo es nichts weiter gab, als den Skizzenblock in ihren Händen, Kurt Cobain in ihren Ohren und keine Menschen um sich herum.
Die Schulzimmertüre war noch geschlossen, also lehnte Daria sich an die Wand und liess ihre Gedanken zu tanzenden Fingern gleiten. Ein Gesicht füllte ihr Bewusstsein. Ein Gesicht, von dem sie wusste, dass es nicht echt war.
Aber es fühlte sich so echt an.
Als sie plötzlich eine Stimme hörte, die ihre Namen schrie, fuhr sie erschrocken hoch. Tobias, ein Widerling aus ihrer Klasse kam auf sie zu und schwenkte dabei sein Handy hin und her. «Schau mal!» rief er.
In Daria stieg die Panik hoch. Sie wusste nicht wieso, aber als der Junge auf sie zukam, konnte sie nicht mehr klar denken. Sie fühle sich absolut hilflos. Der Junge redete nie mit ihr. Dass er jetzt auf sie zukam, konnte nichts Gutes bedeuten. Tobias begann zu grinsen und das Mädchen presste sich instinktiv gegen die Wand.
Als der Junge noch ein paar Schritte von ihr entfernt war, war das Handy verschwunden. Eine schwarze Klinge glänzte in seiner Hand.
«Fass mich nicht an.» Ihre Stimme klang schrill und sie sah, dass ein paar Schüler verwundert den Kopf in ihre Richtung drehten. Tobias hielt verwundert inne, ging dann aber weiter auf sie zu.
«Wag es nicht…» Das Mädchen sah schwarze Punkte vor ihren Augen tanzen. ‘Atmen!’, ermahnte sie sich. ‘Es ist nicht real!s’
Tobias Gesicht verzog sich zu einer dämonischen Fratze und er holte mit dem Messer aus. Daria versuchte etwas zu tun, aber ihr Körper reagierte, bevor ihr Verstand es tat. Wie von selbst bückte sie sich, holte dann Schwung und stiess ihrem Angreifer beide Fäuste in den Magen. Als Tobias zurücktaumelte, nutzte sie seine Unsicherheit, um ihre Faust auf seiner Nase zu platzieren.
Rotes Blut tropfte von Darias Fingerknöcheln, auf den gelben Linoleumboden.
Dann wurde alles schwarz.
Daria spürte die Blicke, noch bevor all ihre andern Sinne zurückkehrten. Sie wusste, dass sie angestarrt wurde, noch ehe ihre Ohren das Getuschel wahrnahmen.
Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Wenn sie genug lange hier sitzen blieb, ohne sich zu bewegen, so würden die anderen sie vielleicht vergessen, dachte Daria.
Es verging ein Moment nach den anderen. Die Sekunden zogen sich unendlich in die Länge und das Mädchen verlor jedes Zeitgefühl. Es kam ihr vor, als ob sie schon immer hier sitzen würde, den Rücken gegen die raue Betonwand gedrückt, die Hände vors Gesicht geschlagen und den Geruch von Blut in der Nase.
Plötzlich berührte sie etwas am Arm und Daria zuckte zusammen, wagte es aber nicht den Blick zu heben.
«Daria…» Die dunkle Stimme klang sanft und eindringlich. Daria wusste, wer vor ihr auf dem Boden sass, seine Hand auf ihrem Arm. Es war der Junge mit den langen Haaren, dessen Finger nicht stillhalten wollten, dessen Gesicht sich seitenweise in Darias Skizzenblock fand.
«Komm schon.» Der Junge gab nicht auf. Er sass hier und wurde wahrscheinlich von allen angestarrt, aber trotzdem war er nicht gegangen.
Und er kannte ihren Namen. Das Mädchen bemerkte es erst jetzt und diese Tatsache überraschte sie so sehr, dass sie die Augen aufschlug und sich sofort in den seinen verlor. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern und trotzdem endete er viel zu schnell wieder.
In einigen Metern Abstand hatte sich ein Kreis aus gaffenden Schülern gebildet und sofort spielte Darias Kopf verrückt.
Die Gesichter der Schaulustigen verzogen sich zu lachenden Fratzen und schienen immer näher zu kommen.
«Sie schauen mich alle an… Sie wollen mir wehtun.» Darias Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, aber der Junge mit flinken Fingern hatte sie trotzdem verstanden. Er stellte keine Fragen, erhob sich nur stumm und hielt ihr dann die Hand hin.
«Du bist nicht echt», murmelte Daria.
«Ach ja? Woher willst du das wissen?», fragte der Junge, doch seine Lippen bewegten sich nicht.
Nach einem Moment des Zögerns ergriff sie diese und liess sich von ihm hochhelfen. Sofort verschränkten sich seine Finger mit ihren und er zog sie durch den Kreis aus Schaulustigen zur Türe hin.
Und so gingen die beiden, das Mädchen mit dem Skizzenblock und der Junge mit den tanzenden Fingern die Schule und keiner der beiden schaute auch nur ein einziges Mal zurück.