Sie fühlte sich absolut hilflos, als sie vor den Scherben ihres Lebens stand. Die Vergangenheit zerbrach unter der Last des Augenblicks, verschwand in dem Moment, als sie verstand, dass ihr Leben eine Lüge gewesen war. Was hatte sie denn jemals erreicht? Lügen, nichts als Lügen, die ihr erzählt hatten, dass schon alles gut werden würde. Und jetzt? Die Zukunft war ihr ebenso geraubt worden wie die Vergangenheit.
Ihr Blick fiel auf dieses winzige Stück Papier, das alles zerstört hatte, was sie in den letzten Jahren mit Sorgfalt gehegt und gepflegt hatte. Aus dem stürmischen Meer ihrer Kindheit hatte sie sich emporgehoben, diese kostbare Insel der Zuflucht errichtet, nur um jetzt festzustellen, dass der Sturm sie schon wieder eingeholt hatte.
Tränen rannen ihr über die Wangen, Ausdruck jenes tiefen Schmerzes, der jedes scheinbar glückliche Lächeln vergiftete. Ein plötzlicher Funke des Zorns entfachte sich in ihrem Herzen und wurde rasch zu einem rasenden Zorn, der sie den Zettel ergreifen und von der Kühlschranktür abreißen ließ. Ihre Hände schmerzten, nachdem sie den Zettel in solch kleine Stücke zerrissen hatte, wie es ihr möglich gewesen war. Ein zerrissenes Leben. Zerrissene Träume. Blind starrte sie auf den Zettelhaufen hinab, die kleinen Fetzen, letztes Zeugnis des Traumes, an den sie sich geklammert, den sie zu dem ihren gemacht und auf dem sie ihr Leben erbaut hatte. Vorbei. Ein Augenblick.
Zornig wischte sie sich die Tränen ab, nahm sich vor stark zu sein, nur um im nächsten Moment wieder schreiend auf dem Boden zu liegen. Sie wälzte sich auf den kalten Fliesen hin und her, krümmte sich zusammen, war wieder einmal das Kind, das festgestellt hatte, dass es verlassen worden war, von jenen, die sie hatten beschützen sollen. Und nun…Allein. Wieder einmal. Verlassen. Hilflos. Ertrinkend in einem Meer aus Schmerz und Einsamkeit.
Willkürlich griffen ihre Finger nach einem Zettel, wieder einmal fuhr sie jeden einzelnen Buchstaben, den sie noch erahnen konnte, nach. Diese Handschrift. Seine Handschrift. Hatte es denn noch schlimmer kommen können? Erst ihr Chef, der ihr den Gehalt kürzte, dann die Freundskündigung ihrer besten Freundin und jetzt das.
Wild schossen ihr die Gedanken durch den Kopf, Bilder schoben sich vor ihr inneres Auge. Bilder von Glück, Zufriedenheit, Zukunft. Alltägliche Momente, die scheinbar unbeschwert gewesen waren.
Nachdenklich drehte sie an dem Ring, den er ihr damals angesteckt hatte, als sie in einem weißen Kleid zu ihm aufgeschaut und ‚Ja’ gesagt hatte. Hatten sie sich nicht versprochen, einander ewig treu zu sein? Bis das der Tod euch scheidet…Lügen. Sie schluchzte auf, verschluckte sich an ihren eigenen Tränen, hustete und heulte nur noch mehr. Der Ring steckte fest. Ließ sich nicht lösen. Als wollte ihr Finger an etwas festhalten, was lange nur noch ein Konstrukt ihrer eigenen Blindheit gewesen war. Endlich konnte sie ihn abnehmen und schleuderte ihn soweit fort, wie sie konnte. Das Stück, Zeichen ihrer Träume, verschwand unter dem Küchenschrank und war nicht mehr zu sehen. Fort.
Sie richtete sich auf, schlang die Arme um die Beine und starrte auf die Fugen zwischen den quadratischen Fliesen. Es war nur ein winziger Punkt, wo eine Fuge auf die andere traf, sie sich kurz berührten, nur um dann ihren Weg fortzuführen. Sollte es das gewesen sein? Ein kurzer Moment in ihrem Leben, wo sie doch so viel investiert hatte in das gemeinsame Glück? Und jetzt war er fort. Hatte sie so plötzlich verlassen wie ein unberechenbarer Sturm und nichts war geblieben außer einem Haufen getrübter Erinnerungen.
„Mama?“ Es war ihre Stimme, die sie aufsehen ließ. Sie musste blinzeln, als sie mitten in das Sonnenlicht blickte, das durch die großen Fenster schien, die er extra hatte einbauen lassen.
„Mama?“ Vorsichtig kam das kleine Mädchen näher, die Augen besorgt geweitet.
„Mama?“ Ein drittes Mal, dann hatte sie ihre Mutter erreicht. Ihre kleine Hand legte sich auf ihre Wange, strich vorsichtig die Tränen weg.
Die dunklen, braunen Augen blickten sie an, wurden zu ihrem Fixpunkt, ein kleiner Funken Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit, die sie eben noch komplett gefangen gehalten hatte.
„Soll ich dir einen Kakao machen?“ Fürsorglich sah das Mädchen sie an.
Sie räusperte sich. „Ja, das wäre wunderbar, Liebling.“ Ihre Stimme war heiser nach all dem Schreien, all den Zeugnissen der Hilflosigkeit, die sie für einen Moment zu ihrer alleinigen Identität gemacht hatte. Wieder eine Lüge.
Und war sie es nicht gewesen, die ihre Tochter Amalie genannt hatte? Hoffnung. Sie blickte zu ihrer Tochter, die soeben Milch in eine Tasse schüttete. Gerührt bemerkte sie, dass es Amalies Lieblingstasse war, jene, sie sie im Kindergarten mit einem Pferd verziert hatte.
„Hier, Mama!“
Amalie reichte ihr die Tasse und setzte sich dann zu ihr auf den Küchenboden, wo sie sich an ihre Mutter anlehnte.
Sie nahm einen Schluck von dem Getränk und hätte es fast wieder ausgespuckt, so schokoladig war der Kakao.
„Du hast einen Bart, Mama“, kicherte Amalie, „Das sieht lustig aus.“
Unwillkürlich musste auch sie lächeln.
Ihre Tochter beugte sich vor und zog ihr Lächeln mit den Fingern nach.
„Du siehst so hübsch aus, wenn du lächelst“, stellte sie fest, „Du solltest es häufiger tun.“
„Ja“, flüsterte sie, „das sollte ich wohl.“
Amalie nahm ihr die Tasse aus der Hand und trank selbst einen Schluck, bevor sie ihr diese zurückgab. Dann schlüpfte sie auf den Schoß ihrer Mutter.
Wie viel hatte ihre Tochter wohl mitbekommen von ihrem Ausbruch? Besorgt sah sie auf das Mädchen herab, für das sie da sein musste. Sie würde nicht denselben Fehler wie ihre Mutter machen, die nach der Trennung von ihrem Vater ebenfalls nicht mehr für ihr einziges Kind da gewesen war. Das schwor sie sich.
Der Schmerz war da und die Feuer wüteten weiterhin auf den zerstörten Feldern ihrer Vergangenheit, doch zugleich war das dieses zarte Pflänzchen, das seine Blätter dem Licht entgegen reckte, um zu gedeihen.
„Amalie.“ Sie flüsterte den Namen ihrer Tochter, immer wieder, als wäre dies das Einzige, was ihr Halt gab, während sie auf dem Küchenboden saßen inmitten des zerrissenen Abschiedsbriefes ihres Mannes.
Und es war ihr Lächeln, das Lächeln ihrer Tochter, das ihr ermöglichte, aufzustehen und vorwärts zu sehen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Auch wenn eine allein erziehende Mutter ohne festen Job in einer Zweizimmerwohnung von der Gesellschaft als hoffnungslos erachtet werden mochte, würde sie nicht hoffnungslos sein.
Weil es inmitten der Hoffnungslosigkeit Hoffnung gab.