Prompt der 60min diesmal: Sie fühlte sich absolut hilflos
Rasch schob Monika ihren Einkaufswagen vor sich her. Gerade noch geschafft.
So richtig wusste sie nicht, ob sie nun auf sich stolz war oder sich über sich selbst ärgern sollte. All die Dinge auf ihrem Einkaufszettel innerhalb von dreißig Minuten zu finden und in den Wagen zu legen, war schon eine Leistung. Andererseits war sie selbst schuld daran. Sie war einfach zu gutmütig.
Und wer war daran schuld gewesen? Wer wohl – Richard mal wieder. So hatte er sich bei ihr lautstark über seine unfähigen Kollegen beschwert, die ihm angeblich durch ihre Inkompetenz das Leben zur Hölle machten. Den ganzen Frust hatte er bei ihr abgeladen. Als Monika schließlich einwandte, dass sie unbedingt heute noch zum Einkaufen musste, da wegen einem Feiertag am morgigen Samstag die Läden nicht öffneten, hatte er nur ein müdes Lächeln für sie übrig gehabt. Das würde heute schon noch reichen, war sein überheblicher Kommentar gewesen, bevor er mit seiner Wutrede fortgesetzt hatte.
Das Ende vom Lied war, dass sie viel zu spät in den Parkplatz des großen Einkaufsladens eingebogen war. Natürlich hatte der gnädige Herr noch einen wichtigen Termin und konnte ihr da leider nicht helfen.
Natürlich! Wenn wunderte das noch? Weshalb blieb sie eigentlich noch bei diesem blöden Kerl?
Sie beschloss, sich nicht mehr zu ärgern – weder über Richard und noch weniger über sich selbst. Stattdessen sollte sie stolz darauf sein, alles so gut hinbekommen zu haben. Einen Gang runterschalten, bewusst langsam ihren Wagen zum Fahrstuhl schieben und geduldig zu warten.
Sie schaffte es auch tatsächlich, nur ein Mal den Knopf zu betätigen und nicht ungeduldig darauf herumzudrücken. Denn es dauerte diesmal ungewöhnlich lange, bis sich die Türen öffneten.
Aber Hauptsache da. Sie fuhr nicht gerne Aufzug, aber mit dem vollen Einkaufswagen war es unvermeidlich. Wenigstens war sie alleine hier drin, denn besonders viel Platz hatte man in dieser Kabine wahrlich nicht und schon ab drei Personen wurde es unangenehm eng, wenn jeder seinen Wagen mit sich hineinschob.
Zufrieden wählte sie das obere Parkdeck und wartete darauf, dass sich die kleine Kabine in Bewegung setzte.
Dazu kam es aber nicht. Stattdessen begannen sich die Fahrstuhltüren langsam wieder zu öffnen.
So viel zum Thema, im Moment lieber alleine zu sein.
„Kann ich noch mitfahren?“, fragte der Eindringling und betrat beherzt in den kleinen Raum.
Sie reagierte nur mit einem leichten Nicken. Sie konnte ja schlecht Nein sagen, auch wenn seine Frage wohl mehr eine rhetorische war. Blieb nur zu hoffen, dass nicht noch jemand zustieg
Diese Befürchtung bewahrheitete sich jedoch nicht und der Fahrstuhl setzte sich endlich in Bewegung. Monika nutzte die Gelegenheit, um ihr Gegenüber möglichst unauffällig zu mustern.
Der Mann, der ihr nun gegenüberstand und sie nicht weiter beachtete, wirkte ungewöhnlich blass – das musste wohl an der künstlichen Beleuchtung liegen. Denn außer dem ungewöhnlich weißen Gesicht wirkte er durchaus gesund. Sicher bald an die zwei Meter, konnte man trotz Hemd, Sakko und Krawatte einen sportlichen und durchtrainierten Körper erahnen. Vermutlich einer dieser Workalkoholics, die nur durch den drohenden Ladenschluss imstande waren, ihre Arbeit zu beenden und das Büro zu verlassen.
Andererseits war sein Einkauf recht übersichtlich und typisch Mann – mehrere Kilo abgepacktes Fleisch und das war‘s. Kein Gemüse und Salat, noch nicht mal die obligatorische Grillsoße. Wahrscheinlich war dafür ein anderer eingeteilt worden. Oder die dazugehörigen Frauen brachten die Beilagen mit.
So, wie es eben üblich war.
Der Mann drehte den Kopf und Monika beeilte sich, rasch zur Seite zu blicken. Nicht, dass er sie noch beim Stalken erwischte, denn das wäre peinlich gewesen. Schlimm genug, dass er außenordentlich attraktiv und außerdem noch ihr Typ war. Dass es mit ihrem Freund zur Zeit so schlecht lief, war schlimm genug.
So begnügte sie sich ab sofort lieber damit, lieber in ihren Wagen zu starren, als gebe es dort ganz besonders interessante Dinge zu entdecken.
„Verzeihen Sie, ich…“, hörte sie ihn nun fragen. Er hatte wirklich eine warme Stimme, die einem unter die Haut ging.
Was er auch immer sagen wollte, sollte für immer ungeklärt bleiben. Denn in diesem Moment gab es einen leichten Ruck, und der Fahrstuhl blieb stehen.
Was!
Nein, das konnte nicht sein. Dieses blöde Ding konnte jetzt nicht steckenbleiben. Bestimmt ging es gleich weiter.
Trotzdem – sie fühlte sich absolut hilflos. Panisch starrte sie auf die Tasten und begann kurz danach planlos, auf ihnen herumzudrücken.
„Das wird nichts bringen. Ich fürchte, wir stecken fest“, meinte der Mann ruhig. Wenn ihm diese Situation unangenehm war, so war ihm dies absolut nicht anzumerken. „Uns bleibt nur, geduldig auf Hilfe zu warten.“
Die Frau reagierte mit einem unwilligen Schnauben und setzte ihr wildes Tun fort. Mehrfach hämmerte sie auf den roten Alarmknopf mit der Klingel.
„Hallo, hallo, hören Sie mich?! Unser Fahrstuhl steht. Hallo?! HILFE !!“, rief sie verzweifelt.
„Verzeihen Sie?“
Sie beachtete ihn nicht. Wie konnte man in so einer Situation so cool bleiben?
Weshalb reagierte hier keiner? Waren die schon alle in den Feierabend gegangen?
Und für wie viele Stunden Luft war in dieser engen Kabine? Würden sie jämmerlich ersticken?
So ein verdammter Mist.
„Ein kleiner Einwand“, versuchte er es erneut.
Was wollte der Kerl nur? Widerwillig gönnte sie den Knöpfen eine kurze Pause und drehte sich zu ihm um. „Was?!“, blaffte sie ihn verärgert an. Wollen Sie sich vielleicht endlich auch mal hier nützlich machen?“
„Wenn Sie mich lassen, gerne“, antworte er ruhig.
Monika trat rasch einen Schritt zur Seite und drückte sie in eine der benachbarten Ecken, um den Mann Platz zu machen.
Weshalb schwitzte er eigentlich gar nicht? Ihr selbst klebte das Shirt bereits am Rücken, aber bei ihn konnte sie keine Flecken am Hemd ausmachen. Und das mit seinem Sakko, der aus dickerem Stoff bestand, wie sie verwirrt feststellte. Ein Hauch von einem herben Aftershave lag in der Luft, als er nun recht dicht neben ihr stand und bedächtig den Notruf bestätigte.
Sie war ihm viel zu nahe. Eigentlich sollte sie ein wenig auf Abstand gehen, aber er hatte seinen Einkaufswagen so ungeschickt hingestellt, dass dies nur durch Hin- und Herrollen beider Wagen ging. So blieb sie unschlüssig stehen und bemühte sich, nicht noch mehr in Panik zu verfallen.
„Guten Abend, entschuldigen Sie die Störung, hört mich hier wer?“, sprach er in aller Ruhe durch das Mikrofon
Sie rollte innerlich mit den Augen. Wie konnte er nur so tun, als wären sie hier auf einem Kaffeekränzchen oder so etwas? Sie waren hier eingesperrt, verdammt!
Zu ihrer großen Überraschung antwortete aus dem Nirgendwo auch tatsächlich eine Stimme. „Hier spricht Wolfgang Keuler. Bitte bleiben Sie ruhig, wir sind über die Fahrstuhlstörung bereits informiert. Rettung ist unterwegs. Keine Panik!“
Fassungslos hörte sie mit offenem Mund zu, wie dieser Büromensch bereitwillig Auskunft gab und mehrmals versicherte, alles im Griff zu haben.
„Wie ist das möglich?“, stammelte sie fassungslos, als er das Gespräch beendet hatte. Ich habe auf den Knopf gedrückt, genauso wie Sie!“
„Nicht ganz“, widersprach er in einem seltsamen Ton. Etwa so, wie wenn man einem begriffsstutzigem Kind etwas erklärt.
„Wie?“
„Es handelt sich bei dem Notruf um einen Wechselschalter. Einmal gedrückt, leuchtet er auf und ist aktiv. Ein nochmaliges Betätigen schaltet ihn wieder aus. Sie haben vorhin wild drauflos gehämmert aber ihn letztlich wieder deaktiviert.“
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das war jetzt nicht wahr, oder?
„Ich schlage vor, dass wir es uns gemütlich machen. Wer weiß, wie lange sie tatsächlich brauchen“, erklärte er und begann, die zwei Einkaufswagen längs an de gegenüberliegende Decke zu schieben.
„Was machen Sie da?“ Dieser Typ war seltsam.
Seltsam und attraktiv, verdammt noch mal.
„Ich verschaffe uns etwas Platz. Wollen Sie die ganze Zeit stehen? Ich jedenfalls nicht.“
Dieser Mann ist nicht nur seltsam, sondern zweifellos verrückt. Wer sonst setzte sich mit dieser guten Kleidung auf einen dreckigen Fahrstuhlboden?
„Nun kommen Sie schon, keine Scheu. Ich beiße nicht – zumindest im Moment.“
Scherzkeks.
„Aber – einfach so hier?“
„Nun ich denke, Sie haben eine Waschmaschine und für meine Klamotten gibt es die Reinigung. Auch gut möglich, dass die Firma, die den Fahrstuhl betreibt, diese Kosten übernimmt. Aber sitzen ist allemal gemütlicher, oder nicht?“
Unter gemütlich stellte sie sich weiß Gott etwas anderes vor. Sie musterte ihn unschlüssig. Seine gelassene Art und ein eigentümlicher Timbre in seiner Stimme bewirkte seltsamerweise, dass sie ruhiger wurde und seiner Aufforderung nachkam. Also nahm sie in einigem Abstand vom ihm Platz. So gut das eben ging in dieser engen Kabine.
Mit einem resignierten Seufzen schloss sie die Augen und lehnte sich gegen die Metallwand.
Nein, das war alles, nur nicht bequem.
„Andre Petit“, hörte sie ihn sagen.
Vorsichtig hob sie die Lider und drehte den Kopf in seine Richtung.
„So heiße ich – Andre Petit.“
Ah ja. Also ein Franzose.
Ohne Akzent.
Ungewöhnlich.
Und warum schaute er sie so erwartungsvoll an?
Sie war mittlerweile wesentlich ruhiger. Ob das an seiner gelassenen Art lag, die sich auf sie zu übertragen schien?
Auch wenn sie weit entfernt davon war, sich wirklich gut zu fühlen. In einem so kleinen Raum eingesperrt zu sein war alles andere als angenehm.
Allerdings hätte es auch wesentlich schlimmer sein können. Schreiende Kinder beispielsweise. Oder, worst case, ein Mann, der die Gelegenheit nutze und sie begrabschte. Dass dieser Andre dies nicht tun würde, spürte sie instinktiv.
Oder, auch nicht gut, sie wäre hier zusammen mit Richard eingesperrt gewesen. Vielleicht also doch Glück im Unglück.
„Verraten Sie mir auch Ihren Namen?“
Ja natürlich, er hatte recht. Das war sie ihm wohl schuldig.
„Verzeihung. Monika Gruber.“
„Nun denn, Frau Gruber, wollen Sie mir sagen, was Sie alles eingekauft haben und wozu? Nicht, weil ich unhöflich erscheinen will sondern, um die Zeit zu vertreiben und uns ein wenig abzulenken.“
Andre erwies sich als angenehmer Gesprächspartner. Er hörte zu, fragte interessiert nach und fand auch sonst die richtigen Worte. Schnell landeten sie beim ‚Du‘ und Monika ließ sich auch breitschlagen, ihm seine Adresse zu verraten. Merken würde er sie sich eh nicht, da war sie sich relativ sicher, trotz seiner gegenteiligen Versicherung.
Schade eigentlich.
Aber der Franzose war wirklich nett und nach all diesem Stress mit Richard genoss sie es einfach, eine angenehme Unterhaltung zu führen, die nicht in Vorwürfen gegen sie endete.
Gerade musste sie sogar über einen kleinen Witz von ihm lachen, als plötzlich Bewegung in die ganze Sache kam.
Im wörtlichen Sinne.
„Wie es aussieht, haben sie den Fehler gefunden“, schlussfolgerte der Mann und erhob sich etwas steif. „Fast bedauere ich das.“
Sie neigte dazu, ihm zuzustimmen, behielt diesen Gedanken aber für sich. Enttäuschung und ein Gefühl des Verlusts machte sich in ihr breit, als der Fahrstuhl noch mehr an Geschwindigkeit aufnahm und sicher zum oberen Parkdeck zusteuerte.
„