Als ich Lucas das erste Mal von meinen Flügeln erzählte, überraschte er mich mit seiner Reaktion. Davor hatte ich mich auf alle möglichen Ausgänge meines Geständnisses vorbereitet und es kostete mich viel Überwindung, ihn darauf anzusprechen. Aber wie es sich im Nachhinein herausstellte, war meine lange Vorbereitung nicht nötig gewesen, denn Lucas reagierte ganz gelassen. Zuerst wollte er mir nicht glauben, deshalb fühlte ich mich gezwungen, ihm meine Flügel zu zeigen. Als er sie dann sah, konnte er nicht aufhören zu grinsen und war vor Freude außer sich. Allerdings bezweifelte er, dass ich mit ihnen auch fliegen konnte. Dies alles geschah, als ich schon mehrere erfolgreiche Strecken hinter mir hatte und ohne Probleme einen Flug starten konnte. Trotzdem wunderte es mich nicht, dass er das Fliegen bezweifelte – gebrauchte ich meine Flügel nicht, so waren sie klein und dünn, und ich konnte sie unauffällig unter einem Korsett verstecken. Flog ich, dann wurden sie groß und blieben bis zum Ende des Fluges unverändert.
Ich erklärte ihm wie anstrengend es war, das Fliegen zu lernen. Denn es war nicht eine Gabe, mit der mich meine Flügel beschenkten. Ich musste dafür hart arbeiten. Es kostete mich mehrere Monate langes Training, bis ich mich endlich in die Luft erheben konnte. Und vor allem die Überwindung der Höhenangst, die ich seit meiner Kindheit hatte. Es schien für eine lange Zeit auch unmöglich zu sein, weil ich mich an die Realität festklammerte und die zwei Flügel ignorierte. Ich musste mein Unterbewusstsein in eine ganz andere Richtung lenken. Mir wurde nach und nach bewusst, dass nichts unmöglich war. Meine Sicht auf die Welt hat sich völlig verändert und was vor dem Fliegen meine Angst war, wurde zu meinem größten Abenteuer.
Meine Flügel waren endlich trocken, jetzt konnte ich sie schon unter dem Korsett verbergen. Ich zog seinen Reißverschluss zusammen und schlüpfte in die hellblaue Bluse. Dann sammelte ich die Bücher für die Schule zusammen, die ich heute benötigte und legte sie der Größe nach in die Schultasche. Vor drei Jahren war alles derart leichter. Doch dann veränderte sich alles von einem Tag auf den anderen.
Vögel hatten mich schon immer begeistert. In der Grundschule verbrachte ich viel Zeit damit, sie zu beobachten und ihre Lebensweise zu erforschen. In der Bibliothek war ich ein Stammkunde und erkannte bald alle Arten nach Form und Ruf. Ich schaute ihnen beim Fliegen mit großer Bewunderung zu und mein größter Wunsch war es, so fliegen zu können wie sie.
Auf einmal verlor ich das Interesse an den Vögeln. Zwar mochte ich sie noch immer, aber ich fühlte mich nicht mehr zu ihnen hingezogen. Ich begann, mich mit anderen Dingen zu beschäftigen und verbrachte meine Freizeit nicht mehr in der Natur, sondern mit Freunden oder im Schwimmbad. In der Schule mussten wir viel lernen und gute Noten anstreben, denn die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium rückte immer näher. Jeder versuchte, sein Bestes zu geben um einen Platz in einer guten Schule zu bekommen. Meinen Traum vom Fliegen hatte ich längst vergessen.
Wie die Zeit verging, hatte ich immer mehr rückkehrende Träume von dem vergessenen Wunsch. In diesen Träumen flog ich. Es war nicht das gewöhnliche Fliegen, sondern eher eine Art Schweben im Raum. Ich besuchte viele Orte, doch konkret konnte ich mich nie daran erinnern, wo ich war. Eine Sache war jedoch sicher: ich flog und ich genoss es. Ich genoss das Gefühl, vom Boden getrennt zu sein. Die Anziehungskraft der Erde war völlig wirkungslos auf mich. Meine Träume hielt ich in einem Tagebuch fest, das ich neben dem Kissen aufbewahrte. Sobald ich aufwachte, machte ich mir Notizen vom Traum, um ihn nicht zu vergessen.
In meinen Träumen verspürte ich zwar nie Höhenangst, hatte aber ein anderes Problem. Jedes mal, als mir bewusst wurde, dass es nur ein Traum war, begann ich zu stürzen und wachte auf.
Eines Abends, an einem eisigen Wintertag blickte ich ins Zimmer meines großen Bruders und sah ihn lesen. Er lag mit einem Buch in der Hand auf dem Bett und war ganz darin versunken. Ich war überrascht, denn normalerweise las er nicht besonders viel. Ich trat vorsichtig in sein Zimmer.
»Was für ein Buch liest du da?« fragte ich nach einer Weile, weil er mich nicht zu bemerken schien.
Seine Antwort war natürlich, ich sollte ihn in Ruhe lassen und aus seinem Zimmer verschwinden. Doch ich wusste, dass das Buch interessant sein musste, wenn er es schon aufgemacht hatte, sprich, darin versunken war... Ich rückte näher und versuchte den Titel zu erblicken. Lucas' Aufmerksamkeit war dermaßen auf den Text gerichtet, dass er es gar nicht bemerkte, wie nahe ich ihm war. Ich holte tief Luft und ließ sie wieder aus. Er hatte den Titel des Buches mit den Fingern verdeckt. Seinerseits kam keine Reaktion, also beugte ich mich noch näher, diesmal mit Erfolg. Er schlug das Buch zu und starrte mich genervt an.
»Was willst du, Schwesterherz?« wollte er wissen.
»Ich wollte nur fragen, was für ein Buch das ist« antwortete ich. »Du weißt, dass ich gerne lese. Und ich weiß, wie wenig dich Bücher interessieren. Und dieses Buch hat dein Interesse geweckt, so ist es ein Delikat für mich...« erklärte ich ihm blöd. »Aber wenn du es mir nicht verraten willst, auch gut.«
Lucas dachte ein wenig nach, bevor er mir antwortete.
»In diesem Buch geht es um die Macht des Unterbewusstseins. Darin steht, wie du deine Seele vom physischem Körper trennen kannst. Ein gutes Buch, kein Zweifel. Wenn du möchtest, kann ich es dir ausleihen. Natürlich erst, nachdem ich es gelesen habe.«
Ich nickte und ging aus seinem Zimmer.
Am nächsten Tag, als ich wieder bei ihm vorbeischaute, war das Buch schon in seinem Regal als Staubfänger aufgestellt worden. Ich nahm es mit in mein eigenes Zimmer und versank darin. Mein Bruder brauchte einen Tag, ich benötigte mehr Zeit, um es auszulesen. Das Thema war nicht gerade das interessanteste und anfangs verstand ich auch nicht viel davon. Doch Lucas brachte immer mehr Bücher und langsam freundete ich mich damit an, das Thema fing an mich zu interessieren. Dadurch konnte ich lernen, meine Träume zu beeinflussen und sie bewusst zu steuern, ohne dabei aufzuwachen. Es geschah, was ich mir vorstellte. Ich nahm die Träume, in denen ich flog, genauer unter die Lupe und lebte sie aus.
In den neuen, bewussten Träumen ließ ich mir Flügel wachsen – es waren mächtige blaue Engelsflügel. Ich flog unendlich lange, die Zeit spielte keine Rolle, sie war während des Träumens nicht anwesend. Immer, nachdem ich aufgewacht war, war ich überglücklich, aber auch traurig, weil der Traum zu Ende war. Es gelang mir nicht, alles hundertprozentig zu steuern, aber es war wie eine neue Welt, die ich so gestalten konnte wie ich wollte.
So ging es wochenlang, bis mir ein Albtraum das Träumen zur Hölle machte. Der Traum fing an wie jeder andere; ich flog ganz bewusst über Felsen, irgendwo in einer Wüste. Die Natur war wunderschön, nirgends waren Häuser, Hütten oder andere Gebäude, nur die ausgestorbene Wüstenwelt in seiner ganzen Pracht. Ich glitt über die Steinwelt, die im Laufe von Millionen Jahren ihre Form angenommen hatte und bewunderte den Sonnenuntergang. Auf einmal fing ich an zu stürzen. Vergebens flatterte ich mit meinen blauen Engelsflügeln, ich blieb nicht in der Luft, sondern kam den Felsen immer näher. Das Schlimmste war, dass ich in Panik geriet, obwohl ich wusste, dass es nur ein Traum war. Mein Herz raste, ich konnte schwer atmen. Ich war meiner Umgebung hilflos ausgeliefert und von den Felsen nicht mehr weit entfernt.
Der Aufprall war schmerzvoll. Ich schrie aus vollem Hals auf und alles wurde für eine Sekunde schwarz. Dann öffnete ich wieder die Augen und hoffte, ich würde sofort aufwachen. Doch nichts passierte, ich lag noch immer genauso reglos auf dem Felsen. Mein Rücken war verkrampft und ich spürte den höllischen Schmerz und etwas Heißes, das meine Kleider durchnässte. Ich schloss meine Augen und fing zitternd an zu zählen. Mit knirschenden Zähnen konzentrierte ich mich darauf, nicht noch einmal zu schreien – ich war mir nicht sicher, ob ich nur im Traum den Laut von mir gab, oder auch in meinem Zimmer. Es war mir übel vor Schmerz, doch ich war unfähig, mich zu bewegen. Eine blasse Vorstellung schlich kurz durch meine Gedanken, was die heiße Feuchtigkeit sein könnte, mir war jedoch unklar, ob sie nur in meinem Traum vorhanden war.