Das brummende Geräusch eines leisen Motors weckte mich. Reflexartig riss ich meine Arme nach vorne um mich gegen das Unbekannte zu wehren, doch etwas scharfes hinderte mich daran. Die Bewegung gelang mir so kraftvoll, dass die Metallhandschellen in meine Handgelenke schnitten. Als der Schmerz mein Bewusstsein erreichte, schrie ich auf. Tränen sammelten sich in meinen Augen, verließen sie aber nicht. Meine Augen waren zugebunden.
Im Raum war es, vom Brummen abgesehen, noch immer still. Ich saß versteift auf dem kalten, harten Boden und konnte mich kaum bewegen. Meine Glieder schmerzten, ich hatte keine Ahnung, was passiert war und wo ich mich befand. Verzweifelt versuchte ich, mich an die letzten Stunden zu erinnern. Oder an die letzten Tage… Meine Erinnerungen ließen mich in Stich. Ich sah nur blasse, verschwommene Bilder vor mir. Lichter in allen Farben, vermutlich Diskolichter, irgendein Getränk. Ein Glas Cola? Und dann ein dunkles Zimmer, überfüllt von schwarzen Punkten. Alles schwarz und dunkel um mich herum. Das waren meine letzte Erinnerungen, aber ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, wann und ob sie überhaupt stattgefunden haben.
Ich richtete die Aufmerksamkeit auf meine Umgebung. Das leise Brummen kam von allen Seiten, ich konnte mir nicht vorstellen, wo ich war. Jemand sprach mit leiser Stimme. Kaum zu hören aber mit klarer Aussprache. Ich verstand nur wenige Wörter. Dann erreichte auch eine andere Stimme meine Ohren. Sie kam mir sehr bekannt vor, aber ich konnte sie mit keiner Erinnerung in Verbindung bringen. Als hätte ein imaginäres schwarzes Loch die Vergangenheit verschluckt und würde diese nie wieder rauslassen wollen.
Ich musste niesen und riss wieder unüberlegt die Hände nach vorne. Der fürchterliche Schmerz zwang einen erneuten Schrei aus mir heraus. Beim nächsten Niesreiz spürte ich, wie sich die Erkältung auch in meinem Kopf ausbreitete und einen enormen Druck ausübte. Der Schmerz pochte mit jedem Herzschlag in meinem ganzen Körper.
»Ist sie schon wach?« fragte jemand.
»Womöglich« antwortete die bekannte Stimme. Sie war ganz leise.
Dumpfe Schritte bewegten sich in meine Richtung und blieben vor mir stehen. Eine warme Hand nahm mein Kinn, eine andere legte sich auf meine Wange. Die vertraute Berührung tat so gut, dass ich mein Gesicht gegen seine Finger presste. Und dann fiel mir alles wieder ein.
Blonde Haare, grüne Augen… Alex. Die Stimme und die Berührung kamen von Alex. Innerhalb von wenigen Augenblicken löste sich der Nebel über meinen Gedanken auf, ich konnte mich wieder erinnern. Die Erinnerungen trafen mich hart, jedes einzelne Bild war wie ein Schlag ins Gesicht. Sie tanzten vor meinen Augen, ließen mich nicht in Ruhe. Ich konnte die Bilder nicht stoppen, es war zu spät. Seine Berührung löste in mir eine unaufhaltbare Lawine aus.
Ich wollte mich nicht erinnern. Nicht an die letzte Nacht. Ich wollte nicht wahrhaben, was passiert war. Ich wollte glauben, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war. Mein Magen drehte sich, ich war kurz davor, mich zu übergeben. Obwohl ich immer schneller atmete, wurde ich das Gefühl nicht los, gleich zu ersticken.
Alex nahm die Hände weg. Ich zog sofort die Knie an meinen Brustkorb und vergrub das Gesicht.
»Komm zurück, Alex« hörte ich die andere Stimme von vorhin und erkannte auch diese. Es war die Stimme von dem älteren Mann beim Abendessen.
»Ja Boss« antwortete Alex ungerührt und ich hörte, wie er sich entfernte. Seine Worte stachen mir wie ein Messer ins Herz.
Ich saß lange regungslos auf dem Boden. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, ich nahm nur noch den leeren Schmerz im Magen und das Pulsieren meines Kopfes war. Die Augenbinde war von Tränen durchnässt, sie rannen meine Wange hinunter und landeten auf Schultern und Beinen. Mein Herz schlug wild, ich atmete schnell.
Während ich schlief, träumte ich viel. Meine Träume hatten keinen Sinn, unbedeutende Bilder wechselten sich ab. Ich träumte, dass ich ewig lang durch einen Wald flog und den Bäumen auswich. Es waren immer dieselben Bäume, die sich wiederholten, ich war in einer Schleife gefangen. Ich tanzte in einer Disko und fand nicht mehr von der überfüllten Tanzfläche raus. Die Menschen um mich herum hatten keine Gesichter, jeder sah gleich aus. Durch den Notausgang gelang ich in ein Einkaufszentrum, wo ich gebratene Kartoffel bestellte. Danach war ich am Strand, ich hatte einen Bikini an, um mich herum waren viele Menschen. Meine Flügel fielen niemandem auf, bis ich draufkam, dass ich gar keine Flügel hatte… Im nächsten Moment glitt ich über Felsen, landete auf einem der riesigen Steine und bewunderte den wunderschönen Sonnenuntergang. Ich flog über Bergketten und Tom begleitete mich, er hatte ebenfalls Flügel. Wir flogen Hand in Hand über die Landschaft.
Ich wachte in einem Schwimmbad auf einem Liegestuhl auf. Ins Badetuch gewickelt spazierte ich um das Becken. Die anderen Besucher schwammen im tiefblauen Wasser ungestört ihre Strecken, immer auf und ab. Eine Frau hatte einen Badeanzug mit Luftkammern an, sie schwebte friedlich an der Oberfläche und genoss das sanfte Streicheln der kleinen Wellen. Auf der anderen Seite des Schwimmbeckens führte eine mit bunten Fliesen ausgelegte Treppe runter zum Plantschbecken. Heiteres Kindergeschrei hallte in meinen Ohren, die Kleinen hatten ihren Spaß im seichten Wasser. Sie spielten mit bunten Luftmatratzen, bauten ein Schiff aus ihnen. Ein ganz kleines Mädchen hatte einen Schwimmring und eine Taucherbrille an. Es sah aus wie ich, als ich klein war. Die Eltern saßen am Beckenrand und unterhielten sich, passten auf ihre Sprösslinge auf. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, wieder ein Kind zu sein.
Die Wand am Ende des Beckens war aus Glasplatten. Ich presste die Hände gegen die Scheibe und warf einen Blick auf die andere Seite, wo sich das Büfett und der Eingang zu den Umkleiden befand. Ich ging weiter und beendete meine Runde. Die Wand hinter den Liegestühlen war ebenfalls aus Glas, dahinter befand sich das Freibad. Da das Wetter perfekt war, entschied ich, in den Außenbereich zu gehen.
Die frisch gemähte Wiese kitzelte meine Füße, aber auf dem heißen Steinweg bereute ich es, barfuß zu sein. Ich eilte zum Becken, warf das hellblaue Badetuch auf eine Liege und sprang ins kühle Wasser. Von mir abgesehen war das Becken leer und im Außenbereich hielt sich auch niemand auf. Ich legte mich auf den Rücken, breitete die Flügel aus und ließ mich treiben. Die Sonne brannte auf meiner Haut. Ich erblickte am Beckenrand eine Sonnenbrille, paddelte hin, setzte sie auf und ließ mich dann wieder vom Wasser tragen.
Ab und zu bewegte ich meine Flügel, um schneller voranzukommen oder die Richtung zu ändern. In meinem Blickfeld erschien eine orangefarbene Rutsche. Ich schwamm an den Rand, stieg aus dem Wasser und lief zur Rutsche. Oben angekommen setzte ich mich hin, stieß mich weg und legte mich in die Kurven, ehe ich mit einem großen Platscher unter Wasser tauchte. Dann schwamm ich mit den Flügeln weiter, ganz bis zum Ende des Beckens, wo ich nach Luft schnappend wieder auftauchte. Mir gefiel es, dass meine Flügel auch für das Schwimmen geeignet waren.
Die Sonne stand genau über mir, als die Turmglocke den Mittag ankündigte. Ich war lange im Wasser und schon hungrig, also beschloss ich, mir vom Büfett etwas Essbares zu holen. Als ich aus dem Becken stieg, waren meine Flügel so schwer, dass ich mich kaum gerade halten konnte. Mit starken Schlägen gelang es mir, den Großteil des Wassers loszuwerden. Ich lief über die heißen Steine zurück ins Hallenbad und stellte fest, dass die Luft kühler geworden war. Das Badetuch hatte ich auf der Liege gelassen, jedoch keine Lust mehr, es zu holen. Im winzigen Becken vor dem Eingang reinigte ich meine Füße im eiskalten Wasser und betrat dann das Schwimmbad. Die heiße, nach Chlor riechende Luft wärmte meine Haut wieder auf.
Wie ich das Becken entlanglief, wurde der angenehme Hintergrundlärm von einem Schrei unterbrochen. Und dann noch einer. Ich drehte mich um und sah, wie mich eine ältere Frau erschrocken anstarrte und mit dem Finger zu mir zeigte. Ohne mir große Gedanken zu machen, schlug ich mit den Flügeln, um das angesammelte Wasser von den Spitzen abzurütteln. Die Schreie vermehrten sich, im Hallenbad verbreitete sich Angst und ich merkte, dass mich jede einzelne Person anstarrte. Ich stand im Bikini in einem Schwimmbad und gab allen meine Flügel preis.