Ich hörte ein knackendes Geräusch und hielt das letzte Bild von meinem zerfallenden Traum fest, bevor ich ganz aufwachte. Der Boden war hart und drückte gegen meinen ganzen Körper. Ein Schritt… Noch einer… Jemand näherte sich. Es waren mehrere Personen, ich hörte Frauenstimmen, die immer näher rückten. Ich verstand nichts, es war eine fremde Sprache.
Die Schritte verstummten neben meinen Ohren. Ich öffnete langsam die Augen und beobachtete das Geschehen. Eine dünne Frau mittleren Alters beugte sich zu mir. Sie hatte blond gefärbte Haare und eine Brille mit rotem Rahmen. Ihr Gesicht war mit Sommersprossen bedeckt. Sie griff mit einer Hand zu meinem Hals, dann sagte sie etwas. Ich hörte wieder Schritte. Sie kamen auf mich zu und blieben vor meinem Kopf stehen. Eine große, warme Hand ließ sich auf meinem Gesicht nieder. Sie war beruhigend. Ich nickte den Kopf zur Seite, um diese Hand ganz unter meiner Wange zu haben. Die Personen im Raum unterhielten sich leise. Es waren zwei Frauen- und eine Männerstimme.
Mein Rücken wurde von Händen und Armen gestützt. Das Licht entfernte sich langsam, alles bewegte sich. Ich tastete nach der warmen Hand, die mein Gesicht umgab, aber ich fand sie nirgendwo.
Minutenlang war ich der Auffassung, dass ich schwebe. Minutenlang trugen sie mich irgendwo hin, wo ich noch nicht war. Als sie mich auf ein Sofa setzten, verschwand langsam der Nebel, in dem ich mich befand und ich konnte wieder klar denken. Ich öffnete meine Augen, das Licht war auch hier zu grell. Mein Gehirn fuhr hoch, wie ein Computer, und reagierte sofort auf die Umgebung. Ich war in Gefahr.
Vor mir standen Menschen in einem Kreis. Die blonde Frau von vorhin drehte sich oft in meine Richtung und dann wieder zu den anderen. Die andere Frau hatte kastanienbraune Haare und war viel jünger als die blonde. Im Kreis standen noch zwei Männer; ein älterer mit einer Brille und grauen Haaren, und ein junger mit braunen Haaren. Ihre Haarfarben stachen in dem hellen Raum heraus, vor allem, weil alle lange, weiße Kittel trugen. Auf Brusthöhe befanden sich die silbernen Namensschilder mit schwarzer Schrift.
Als ich unbeobachtet war, ließ ich den Blick über den Raum gleiten. Ich befand mich auf einem hellbraunen Sofa aus feinem Leder. Rechts von mir stand ein Computer auf einem großflächigen Tisch. Daneben Unterlagen und Mappen. Links neben mir war ein kleinerer Tisch, belegt mit medizinischen Instrumenten wie Blutdruckmesser, Skalpell und viel Metallzeug, von dem ich nicht wusste, wofür sie benutzt werden. Es wurde mir schlecht, als ich feststellte, dass ich in einem Untersuchungsraum war. Mein Magen vertrug weder den Anblick, noch den Gedanken.
Der Kreis löste sich auf und der ältere Arzt – ich vermutete, dass sie alle Ärzte waren –, ging mit der Brünetten aus dem Raum. Die Tür hatte ein Sicherheitsschloss. Ich entspannte meine Glieder und tat so, als würde ich schlafen.
Ich war ruhig, bis zu dem Moment, als die Blondine zum Tisch mit den Instrumenten ging. Mein Herz schlug schnell, ich konnte das Schlafen nicht mehr vortäuschen. Ich rutschte auf die andere Seite des Sofas und sah die Ärztin erschrocken an, als sie mit dem Blutdruckmesser zu mir trat. Ich konnte ihren Namen ablesen, sie hieß Dr. Sarah Clear. Der andere Arzt stand mit verschränkten Armen vor der Tür und beobachtete uns. Dr. Clear erklärte mir etwas, was ich nicht verstehen konnte. Da sie das Gerät bei sich hatte, vermutete ich, dass sie meinen Blutdruck messen wollte. Ich streckte einen Arm aus und ließ das Gerät befestigen. Mein Puls beruhigte sich wieder.
Während der Untersuchung folgte ich meinem Verstand und bemühte mich herauszufinden, was Dr. Clear wollte. Ich war froh, dass sie meine Flügel in Ruhe ließ. Alles verlief reibungslos, bis sie eine Spritze in die Hand nahm. Panisch sprang ich vom Sofa und wollte weglaufen. Dann geschah alles ganz schnell. Der Mann lief auf mich zu, um Dr. Clear zu helfen, ich presste mich gegen die nächste freie Wandfläche und fokussierte auf die Tür. Meine Hände zitterten, mein Blick sprang zwischen den beiden hin und her. Im nächsten Moment ging die Tür auf und ich rannte los, stieß die Person um, die in der Tür stand. Ich befand mich in einem langen Flur mit unzähligen anderen Gängen links und rechts. Ohne nachzudenken lief ich nach links weiter. Ich hörte fremde Schritte hinter mir, die sich ebenfalls beschleunigten.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und ob ich überhaupt in diesem Gebäudekomplex jemals den Ausgang finden würde, aber ich wurde immer schneller und nach einer Zeit unterblieben die Schritte, die mich verfolgten. Für einen kurzen Augenblick war ich mir selbst dankbar, dass meine Ausdauer dank des täglichen Trainings hervorragend war. Ich schaute nicht nach hinten, weil ich mir sicher war, dass ich nicht mehr verfolgt wurde. Ich verlangsamte meine Schritte und hielt das Tempo, während ich mit meinen Flügeln schlug. Fliegend hatte ich bessere Chancen.
Am Ende des Flurs nahm ich wieder den linken Gang, der immer breiter wurde. Breit genug, um zu fliegen, ohne dabei die Wände zu streifen. Plötzlich ging eine Tür im Gang auf und eine größere Gruppe von weiß gekleideten Personen stellte sich vor mir auf und bildete eine Wand. Ich überprüfte die Höhe des Ganges und rannte noch schneller auf die Gruppe zu. Kurz vor ihnen sprang ich hoch und flog über ihre Köpfe. Ihre Reaktion war zu langsam, sie konnten mich nicht aufhalten.
Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern und flog rasanter als sonst. Eine riesige Halle erschien vor mir. Erst als ich hineinflog, bemerkte ich, dass ich in einer Sackgasse war. Ich flog zu schnell, um umkehren zu können und musste deshalb landen. Mein Atem ging schnell, von der Anstrengung bekam ich nur schwer Luft. Ich hatte meine Ausdauer wohl überschätzt und nicht miteinberechnet, dass ich die letzten Tage, so kam es mir vor, nur gelegen war. Mein Körper fühlte sich viel zu schwach an. Ich lief dennoch in die Gegenrichtung weiter und verließ die Halle.
Am Ende des Ganges warteten schon meine Verfolger auf mich. Ich war K.O. und wusste nicht weiter. Vielleicht… Vielleicht könnte ich wieder über ihre Köpfe fliegen. Mit den letzten Kraftreserven beschleunigte ich meine Schritte und sprang mit ausgebreiteten Flügeln in die Luft, aber ich war ihnen schon zu nahe und konnte nicht hoch genug springen. Ich spürte, wie einer von der Gruppe nach meinem Knöchel greift und mich nach unten zieht. Ich prallte mit dem Gesicht auf den Boden und riss dabei die halbe Gruppe mit. Der Sturz war schmerzhaft, etwas Warmes breitete sich unter meinem Gesicht aus. Ich roch und schmeckte Blut, mir wurde es schwindlig. Die Hand hielt meinen Knöchel fest, bis Verstärkung ankam.
Ich wurde an Beinen und Armen umklammert und konnte mich nicht mehr bewegen. Die Panik ließ langsam nach, ich schloss meine Augen und übergab mich meinem Schicksal. Mein Bewusstsein schweifte ab, aber ich nahm noch schwach wahr, wie ich gefesselt wurde und gleichzeitig einen dünne Nadel meine Haut durchdrang. Dann hob ich vom Boden ab und schwebte. Stundenlang.