»Lauf nicht weg!« Die Stimme, die vom Auto kam, war mir vertraut.
Ich verharrte in der gescheiterten Bewegung. Seine Stimme hallte in der ganzen Gasse.
Ich durfte Alex nicht vertrauen. Er hatte mich hierher gebracht, zu diesen Menschen, die mich gefangen hielten. Wenn ich in seinen Wagen steige, dann bin ich innerhalb von wenigen Minuten wieder im Institut. Doch andererseits habe ich es mit seiner Hilfe überhaupt so weit geschafft… Er hat mir eine Chance gegeben, ihnen zu entkommen.
»Steig ein!« schrie er.
Erinnerungen. Zu viele Erinnerungen. Darunter auch schöne, doch überwiegend schmerzhafte… Die Verknüpfungen mit der Stimme wollte ich am liebsten aus meinem Gedächtnis löschen. Ich sah Bilder vor mir, wie wir geredet und gelacht hatten und auf die Heuhaufen geklettert waren. Dieser schöne Augenblick an der Bushaltestelle begleitet vom Takt des Regens… Alex hatte mein Vertrauen ausgenutzt. Er war nur ein Köder ohne Gefühle, aber dafür mit unglaublichem schauspielerischen Talent.
»Blanka!« hörte ich. Mein Name traf mich wie ein Blitzschlag.
Ich müsste Alex hassen, doch ich tat es nicht. Ich empfand nur Trauer und Schmerz. Wie vielen hatte er das schon angetan? Es war irrelevant. Ich hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, ich musste mich auf die Flucht konzentrieren.
»Steig ein! Sie sind gleich da!«
So sehr ich auch versuchte, einen Ausweg aus meiner unglücklichen Situation zu finden, ihm zu vertrauen war die einzige Wahl, die ich hatte. Und vielleicht sogar meine letzte Chance, ihnen zu entkommen. Ich blickte über meine Schulter in seine Augen.
»Ich kann nicht! Hilf mir!« kreischte ich verzweifelt.
Alex rannte sofort zu mir und hob mich vom Boden auf. Sein Griff war fest aber sanft. Ich spürte die Wärme seines Körpers, wie er mit mir zurück zum Auto eilte. Selbst wenn ich wieder ins Institut kommen würde, war es wert, seinen Duft ein letztes Mal zu spüren.
Er riss die Hintertür auf und legte mich vorsichtig auf die Rückbank des Wagens. Kaum war er eingestiegen, beschleunigte sich das Auto rasant auf eine hohe Geschwindigkeit.
»Alles ok? Bist du schwer verletzt?« fragte er.
Ich zitterte noch immer vor Angst, vor Erschöpfung und Erleichterung, aber auch vor Schmerz, der langsam wieder in mein Bewusstsein drang. Ich war nicht in der Lage, Alex zu antworten. Als er zu mir blickte, drehte ich den Kopf weg, ehe unsere Blicke sich begegnen konnten. Ich versuchte mich zu beruhigen und die Tränen der Erleichterung zurückzuhalten.
Wir fuhren schon eine ganze Weile, als der Lärm von Hubschraubern ertönte. Meine Finger schnappten verkrampft nach dem Vordersitz, ich spürte wie ich verblasste. Er hatte mich schon wieder angelogen… Alex erledigte nur seine Arbeit. Es sei denn… Wir beide werden verfolgt. Nein, das war unmöglich.
»Keine Panik, es ist alles in Ordnung« beruhigte er mich. »Wir werden sie gleich los.«
Alex musterte den Himmel, wo gleich zwei Hubschrauber vorbeiflogen.
»Wie?« wollte ich wissen. Ich traute ihm nicht ganz. »Ich dachte, du bleibst stehen und übergibst mich ihnen…« Meine Stimme klang niedergeschlagen.
»Nein« flüsterte er und hielt inne, als würde er beobachtet werden. »Ich möchte dich bitten, zu tun, was ich dir jetzt sage. Wenn wir sie loswerden wollen, musst du mir vertrauen, verstanden? In Kürze erreichen wir einen Tunnel. Tu was ich dir sage, ok?«
»Wieso soll ich dir noch vertrauen?« fragte ich ihn leise.
»Blanka, bitte« flehte er mich an.
Ich ließ den Vordersitz los. Wie viel durfte ich ihm glauben? Es wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Nie wieder.
»Wieso?« fragte ich wieder. Alex seufzte.
»Weil du keine andere Wahl hast« teilte er mir dann gleichgültig mit. »Wenn du willst, kann ich dich ihnen ausliefern.«
Meine Finger verkrampften sich wieder und ein heißer Tropfen verließ mein Auge. Es war besser, zu schweigen.
»Danke« sagte er ganz leise.
Alex fuhr im gleichmäßigen Tempo auf der überfüllten Straße. Über uns schwebten die Hubschrauber und verfolgten den Wagen. Ich hielt die aufsteigende Panik zurück, schließlich würde Alex wissen, was er tut. Ich wollte ihn nicht daran hindern, mir zu helfen.
Wir erreichten tatsächlich einen Tunnel, wie Alex es mir gesagt hatte. Es wurde dunkler, die Lichter an der Decke rasten an uns vorbei und verschmolzen langsam zu einer durchgehenden Linie. Alex trat auf das Gaspedal.
»Ich habe den Befehl bekommen, dich einzufangen und ihnen zu übergeben, falls es ihnen nicht gelingt. Jetzt sind sie hinter uns her, weil ich von der geplanten Route abgewichen bin.«
Seine Worte hörten sich logisch an, dennoch war einiges unklar.
»Woher haben die gewusst, dass ich entkomme?«
»Das haben sie nicht gewusst. Der Plan ist entstanden nachdem du aus der Arena gesprungen bist« erklärte er.
Ihr Plan war letztendlich uninteressant. Mich quälte nämlich eine viel wichtigere Frage.
»Wie werden wir sie los?«
»Wir fahren mit einem anderen Wagen weiter« bekam ich als Antwort.
Wenn Alex die Wahrheit sagte, so könnte der Plan funktionieren.
»Sie vertrauen mir, es wird nicht auffallen. Wir schaffen das« ermutigte mich Alex. »Wir sind gleich dort. Die Hubschrauber warten vermutlich beim Ausgang des Tunnels auf uns. Wir müssen uns beeilen, ehe sie die Straßen sperren.«
Ich hatte wieder Hoffnung. Hoffnung, meine Familie wieder zu sehen, mit Stella wieder reden zu können. Wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen und wieder laufen zu gehen…
Alex bremste und lenkte den Wagen auf die dünne Spur neben der Wand, die für Notfälle gedacht war. Er blieb hinter einem schneeweißen Sportwagen stehen, der ebenfalls auf der Spur parkte. Er atmete tief durch und ließ seine Hände noch sekundenlang auf dem Lenkrad ruhen.
»Ein schönes Auto. Ich habe es geliebt« sagte er leise, aber stolz. Dann schaute er zu mir nach hinten. »Wir wissen nicht, wer uns noch verfolgt und wie viel Verstärkung sie haben. Wir müssen zum anderen Auto rennen. Bist du bereit?«
»Ich kann nicht rennen…« erinnerte ich ihn resigniert.
»Halte dich an mir fest. Ich trage dich« sagte er und stieg aus. Er riss die Tür neben mir auf und nahm mich aus dem Wagen, ich klammerte mich an seinem Hals fest.
Alex sprintete mit mir zum weißen Auto vor uns, dessen Hintertür schon geöffnet war. Er legte mich auf den weichen Teppichboden und blieb bei mir. Der Wagen fuhr sofort los. Doch wer lenkte ihn? Ich versuchte, meinen Hals so zu strecken, dass ich die Person sehen konnte, doch mein ganzer Körper wehrte sich gegen jegliche Bewegung. Ich sah nur Alex’ Beine im Dunkeln.
Es wurde immer heller, wie wir uns dem Ende des Tunnels näherten.
»Sie sind schon da« stellte Alex fest. Er kommunizierte mit dem unbekannten Lenker des Wagens.
Ich begriff sofort, was er meinte. Die Hubschrauber dröhnten in meinen Ohren. Vielleicht lag es an meiner verzerrten Wahrnehmung oder an der Angst, dass ich das Geräusch diesmal viel lauter wahrnahm, doch sie waren da und warteten auf mich. Mir wurde es auf dem Boden des klimatisierten Metallkastens immer kälter.
Wir verließen den Tunnel und fuhren auch an den Hubschraubern vorbei. Sie hatten uns nicht bemerkt, denn sie warteten auf das schwarze Auto von Alex.
»Wo sind wir?« wollte ich wissen. Ich brauchte endlich eine Antwort auf die Frage, die mich schon seit Wochen beschäftigte.
»In Boston« hörte ich. Alex starrte steif auf die Straße.
Boston. Ich dachte nach, doch mein Gedächtnis wollte nicht mehr kooperieren. Ich hätte nicht einmal meinen eigenen Namen buchstabieren können.
»An der Ostküste« ergänzte er.
Der salzige Duft des Wassers. Der Blick auf den Ozean. Natürlich. Jetzt, wo ich wusste, wo ich mich befand, schien es auf einmal unmöglich zu sein, dass ich jemals wieder nach Hause kommen würde.