Während wir von Geschäft zu Geschäft baumelten, fiel das Wort auf Alex und ich fragte sie, ob er es ihr verboten hatte, mir Fragen zu stellen. Michelle schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Was hat er dir dann gesagt?« wollte ich wissen.
»Er hat mich darum gebeten, nicht nachzubohren« sagte sie leise.
»Wie viel weißt du?« versuchte ich wieder. Ich musste wissen, ob sie von meinen Flügeln Bescheid wusste.
Michelle lächelte mich an, ihre Augen strahlten. Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das sagen darf.«
»Es bleibt unter uns« versicherte ich ihr.
»Gut, aber ich möchte keinen Konflikt mit meinem Bruder. Er ist manchmal sehr stur.«
»Ich weiß« lächelte ich. »Aber keine Sorge, ich sage ihm kein Wort.«
»Alex hat gemeint, dass du dich in großer Gefahr befindest. Er konnte nicht mit dir mit, also hat er mich gebeten, auf dich aufzupassen« Michelle musterte mich besorgt, aber ich lächelte sie weiterhin an und langsam entspannten sich auch ihre Züge. Sie erinnerte mich zu sehr an Alex. »Mein Bruder hat mir auch erzählt, dass du im Institut warst und es für mich sicherer ist, wenn ich dir nicht zu viele Fragen stelle« setzte sie fort.
»Du kennst das Institut?« fragte ich erstaunt und wurde sofort blass. Ich sah mich um, doch niemand schien uns Beachtung zu schenken. Ich schüttelte den Kopf. Hoffentlich würde ich nicht paranoid werden.
»Alles in Ordnung, Süße?« Michelle nahm meine Hand.
»Ja, ich denke schon« antwortete ich und riss mich zusammen. »Warst du auch dort?«
»Wir waren noch sehr jung, ich und meine zwei kleinen Brüder, als wir zum Institut kamen. Darüber darf ich dir aber nichts berichten« meinte sie. »Hat Alex tatsächlich aufgehört?«
Ich wusste nicht, was ich Michelle erzählen durfte und antwortete deshalb mit einem Schulterzucken.
»Er klang verzweifelt, als er mich angerufen hat. Es würde mich nicht wundern, falls er tatsächlich gegangen wäre.«
»Michael hat mir erzählt, dass er auch im Institut gearbeitet hat« sagte ich.
»Wir haben gemeinsam gekündigt« verriet sie mir.
»Eine gute Entscheidung.«
»Du warst drin und du bist auf der Flucht vor ihnen« stellte sie fest und musterte meine Augen.
Ich nickte. Es war nicht fair, ihr alle Informationen vorzuenthalten. Schließlich war sie die weite Strecke nur deshalb gefahren, um mir zu helfen.
»Ich war drinnen« bestätigte ich. »Und ich habe noch immer Alpträume. Das Institut ist ein grausamer Ort« meine Stimme bebte.
»Ich weiß. Es wäre vielleicht besser, das Thema zu lassen. Du weißt schon, wegen Alex« sagte sie, aber ich sah ihr an, dass sie sich um mein Wohlbefinden Sorgen machte.
»Du hast recht« flüsterte ich. Es war besser, die qualvollen Erinnerungen nicht auszugraben.
Als es anfing zu dämmern, spazierten wir zurück zum Gasthaus. Ich war froh, dass ich nach langen Monaten endlich wieder entspannt ein paar Kleidungsstücke und Schuhe kaufen konnte. Den Koffer, den ich für das Klassenlager gepackt hatte, würde ich vermutlich nie wiedersehen, und in dem waren alle meine Lieblingssachen.
Ich konnte mich erst umziehen, als Michelle duschen ging. Meine Flügel taten weh und am liebsten hätte ich den Verband heruntergenommen, aber sie wusste nichts von ihnen und ich wollte sie nicht schockieren.
Später gingen wir in ein italienisches Restaurant, weil Michelle der Meinung war, dass ich einen abgemagerten Eindruck mache. Vermutlich hatte sie recht, denn die letzten Tage hatten mir viel Energie gekostet.
Draußen war es inzwischen kühl geworden und ich war froh, dass ich den langen Pullover dabeihatte. Im Restaurant suchten wir uns einen freien Tisch und nahmen Platz. Ich blätterte die Speisekarte durch und genoss das Lachen der anderen Gäste.
»Was essen wir?« fragte mich Michelle.
»Ich weiß es nicht. Alles hört sich so lecker an« beschwerte ich mich.
»Spaghetti?« schlug sie vor.
»Tortellini mit Fleischfüllung?« konterte ich. Ich wollte unbedingt etwas mit Fleisch oder Fisch, um mich zu stärken.
»Klingt auch nicht schlecht, aber ich bleibe bei meiner Portion Spaghetti« zwinkerte sie.
Als der Kellner kam, bestellte Michelle zum Essen noch jeweils ein Glas Rotwein. Ich war sowieso nicht in der Lage, zu fliegen, und hatte deshalb auch nichts einzuwenden. Ein bisschen Wein würde mir in jeder Hinsicht guttun.
Es dauerte lange, bis das Abendessen serviert wurde und wir hatten Zeit, um über alles Mögliche zu reden. Michelle war zwar um einiges älter als ich, doch dieser Unterschied schien unbedeutend zu sein, wir verstanden uns super. Als sie nach meinem Alter fragte, konnte ich ihr vorerst keine Antwort geben. Hatte ich bald Geburtstag oder war er schon längst vorbei? Ich wusste nicht einmal, welches Datum wir hatten.
»Welcher Tag ist heute?« fragte ich Michelle.
»Der sechsundzwanzigste Juli« antwortete sie mir.
Der sechsundzwanzigste Juli… Was so viel bedeutete, dass morgen mein Geburtstag war. Ich fing an zu rechnen und kam zu dem Schluss, dass ich über fünf Wochen lang eingesperrt war. Mir kam die Zeit im Institut jedoch viel länger vor, die monotonen Tage im sterilen Zimmer brachten mein Zeitgefühl durcheinander und irgendwann hatte ich aufgehört, sie zu zählen.
»Morgen werde ich achtzehn« beantwortete ich dann ihre Frage.
»Oh, alles Gute!« Michelle beugte sich über den Tisch und umarmte mich. Ich ließ es kurz geschehen, dann zog ich mich zurück, damit sie meine Flügel nicht bemerkte.
»Wie lange bleibst du in Frankfurt?«
»Morgen in der Früh muss ich wieder fahren« sagte sie.
»Schade« bedauerte ich. »Ich wäre noch gerne feiern gegangen.«
»Was spricht dagegen?« Michelle grinste mich breit an und ich musste es einfach erwidern.
»Alex…« meinte ich. »Er denkt sich sicher, dass wir im Hotelzimmer sind und schon schlafen.«
»Mein Bruder muss ja nicht alles wissen« meinte sie.
»Du hast recht.« Alex tat mir in dem Moment furchtbar leid und ich hatte schon im Voraus ein schlechtes Gewissen.
Das Abendessen war Michelles Geburtstagsgeschenk für mich. Sie zahlte, dann machten wir uns auf die Suche nach einem guten Club, wo wir tanzen konnten. Der Rest des Abends verlief in guter Stimmung. Wir hatten zwar nur ein Glas Rotwein getrunken, genossen dennoch die laute Musik. Um Mitternacht gratulierte mir Michelle wieder zum Geburtstag und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich war überglücklich und erleichtert, dass ich nicht ungewollt an die letzten Wochen denken musste, und da Alex auch nicht in der Nähe war, ließen mich die schmerzhaften Erinnerungen ebenfalls in Ruhe. Es war zwar verantwortungslos von mir, mit seiner Schwester auszugehen, aber ich hatte es gebraucht. Wir tanzten die Nacht durch, ich fühlte mich sorgenlos und frei.
Um drei Uhr morgens verließen wir erschöpft die Disco und eilten auf den dunklen Gassen zurück zum Gasthaus.
»Hast du dich wohlgefühlt?« fragte mich Michelle, als wir schon im Zimmer waren.
»So wohl wie seit Langem nicht mehr« lächelte ich.
»Das freut mich sehr. Wir sollten sowas öfters machen« sie nahm meine Hand.
»Alex würde uns umbringen« sagte ich grinsend. »Wir hätten nicht einmal Zeit, ihm die Situation zu erklären.«
»Darin bin ich mir sicher« lachte sie.
Im Gasthaus ging ich nochmals duschen. Als ich fertig war, brannte im Zimmer nur noch das kleine Licht. Ich war mir nicht sicher, ob ich Michelle am Morgen noch sehen würde und weckte sie deshalb sanft auf.
»Danke für den tollen Abend« flüsterte ich. »Alles war perfekt.«
Sie gähnte müde und drehte sich zu mir.
»Gerne doch. Immer wieder.«
Ich legte mich neben sie ins Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze.
»Gute Nacht, Michelle« sagte ich und schaltete die kleine Lampe aus.