»Wie könnte ich ihn den vergessen« hauchte ich als Antwort.
»Das war der Moment, in dem die ersten Zweifel auftauchten, ob das, was ich tat, auch richtig war. Ab dem Zeitpunkt kämpfte ich gegen mein Gewissen an und musste mich immer wieder davon überzeugen, dass ich nichts anderes tat, als meine Arbeit zu erledigen. Ich durfte nicht zulassen, dass Gefühle meine Aufgabe beeinträchtigen. Und dann, am vorletzten und letzten Tag… Verdammt« Alex schüttelte den Kopf.
Am letzten Tag war die Party. Und einen Tag zuvor hatte er mich zum Essen ausgeführt. Die Erinnerungen waren kristallklar, als wäre alles nur erst wenige Stunden her.
»Was ist passiert?« fragte ich ihn. Ich wollte endlich die Wahrheit wissen.
»Kannst du dich erinnern? Ich habe dich angefleht, die Nacht mit mir zu verbringen.«
»Ich kann mich erinnern, ja.«
»Ich wollte dich warnen, dir mitteilen, in welcher Gefahr du dich befindest… Ich wollte dich auffordern, wegzufliegen und dich zu verstecken. Aber du hast mit Ablehnung reagiert und ich habe dein unvermeidliches Schicksal akzeptiert. Keine Ahnung, was an dem Tag in mich geraten ist, aber auf einmal überkam mich tiefste Trauer. Ich trauerte um deine Zukunft und wusste nicht mehr, auf wessen Seite ich stand.
Die Nacht verging schlaflos. Ich wiederholte immer wieder, dass es nur ein Auftrag war, der bald enden würde. Bis ich am nächsten Tag das Bild von dir und Camilla in deinem Zimmer sah.«
»Du bist aufgesprungen« erinnerte ich mich, während Alex tief Luft holte.
»Mir ist klargeworden, dass das wundervolle Lächeln noch am selben Tag von deinem Gesicht verschwinden würde. Genauso, wie es von Camillas Gesicht verschwunden war. Deine Augen würden nie wieder so strahlen.«
»Wieso hast du mich dann nicht gewarnt?« eine heiße Träne rollte auf Alex‘ Shirt und breitete sich aus.
»Es war schon zu spät…« flüsterte er. »Du hättest es nicht mehr geschafft.«
»Wieso bist du dir denn so sicher?« fragte ich ihn stur. An dem Tag wäre ich für jeden Hinweis dankbar gewesen.
»Ich hätte dir alles erklären müssen und du hättest mir nichts mehr geglaubt. Du hättest mir nicht mehr vertraut, was aber essentiell gewesen wäre, um im letzten Moment entkommen zu können« erklärte er mir.
Wahrscheinlich hatte er recht und ich hätte ihm tatsächlich kein Wort mehr geglaubt. Statt zu fliehen, hätte ich vorzeitig mit dem Schmerz kämpfen müssen, den sein Verrat in mir ausgelöst hätte.
»Als ich dich dann auf der Feier mit diesem einen Typen tanzen sah, überkam mich eine derartige Eifersucht, dass ich selbst überrascht war. Ich wollte dich für mich alleine haben, dich in die Arme nehmen und die ganze Nacht mit dir durchtanzen. Doch dieser Wunsch war unmöglich, ich hatte eine klare Aufgabe. Also fuhr ich dich zu mir und betete, dass es schnell und schmerzlos vorbei sein würde. Dich diesen Männern zu übergeben, brach mir das Herz.« Alex‘ Umarmung wurde fester. Ich vergrub das Gesicht in seinem Hals. »Wie du im Fenster saßest und mich hilfesuchend angeblickt hast, wusste ich, dass ich etwas begangen hatte, das sich nie wiedergutmachen lassen würde.«
»Ich konnte es einfach nicht glauben, dass auch du zu denen gehörst« flüsterte ich. »Meine Gedanken waren zu neblig, um den Zusammenhang zu verstehen.«
»Das war das Schlafmittel, das ich dir ins Getränk gegeben habe« klärte mich Alex auf und ich seufzte. »Es tut mir leid, Blanka. Es tut mir so unglaublich leid.«
»Es war ein Auftrag« sagte ich gleichgültig, doch meine Tränen verrieten den Schmerz.
»Ich habe dein Leben ruiniert. Ich habe dir die Flügel gebrochen. Als wir im Institut ankamen und ich diese Leute sah, wollte ich hinausrennen und alles vergessen. Ich fühlte mich schuldig für all das, was bevorstand. Mir war es schlecht zumute. Der Boss sah mein Unbehagen und schickte mich auf Urlaub. Noch am selben Tag beschloss ich, dich da rauszuholen, egal was es kostet.«
»Warst du dann gar nicht mehr im Institut?« wollte ich wissen. Obwohl ich mir im Institut, um mich selbst zu schützen, keine Gedanken über Alex gemacht hatte, nahm ich seine Anwesenheit unbewusst wahr.
»Doch, Blanka. Ich war drin. Ich war im Institut. Offiziell war ich auf Urlaub, aber die ersten Nächte verbrachte ich hinter der Glaswand, die mich von deinem Zimmer trennte. Dein Schlaf war tief, wurde aber immer wieder von Alpträumen heimgesucht, in denen du verzweifelt nach mir gerufen hast« Alex ließ mich los und musterte meine Augen. Ich hielt seinem traurigen Blick stand. Er wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, da kein einziger Ton herauskam.
Er war bei mir im Institut, auf der anderen Seite der dunklen Glaswand. Er konnte mich sehen, aber ich ihn nicht. Gedanklich zerbrach ich diese Glaswand und stieg über die Scherben zu ihm hinüber, damit wir gemeinsam das Institut verlassen konnten.
»Was haben sie dir nur angetan« sagte er wieder kopfschüttelnd und griff sanft mit einer Hand hinter mein rechtes Ohr, als wollte er mit der Geste etwas Konkretes andeuten.
»Was denn?« fragte ich verständnislos.
»Du wurdest gekennzeichnet. Hinter deinem Ohr befindet sich eine Nummer.«
»Oh« ich griff unwillkürlich hinter mein Ohr und traf auf Alex‘ warme Hand. Hatten sie mich tatsächlich markiert? »Was für eine Nummer?«
»8 1 33 2 in kleiner schwarzer Schrift.«
»Was bedeutet das?«
»Die erste Ziffer ist die Nummer des Instituts. Die zweite steht für ein menschliches Versuchsobjekt. Die nächsten zwei für die Art der Experimente. Die letzte Ziffer bedeutet, dass du die Zweite dieser Art bist.«
»Camilla« begriff ich sofort. »81331?«
»41331« korrigierte mich Alex. »Sie war in einem anderen Institut.«
»Natürlich« ich drehte den Kopf zur Seite, um Alex‘ Hand an meiner Wange spüren zu können. Die Nummer hinter meinem Ohr war mir augenblicklich egal, mich interessierte eine wichtigere Frage. »Wie konntest du einen so sicheren Plan aufstellen? Woher hast du gewusst, dass ich es schaffen würde, ihnen zu entkommen?«
»Ich habe an dich geglaubt. Du bist stark, sowohl mental als auch physisch. Als ich erfuhr, dass Flugexperimente bevorstanden, ergriff ich die Initiative und ging zum Boss. Er teilte mir die Aufgabe zu, mich um die Organisation zu kümmern. Ich sah mir die Arena genauer an und durchdachte jede Möglichkeit. Die Fenster waren zwar klein, aber ich wusste, dass du es schaffen würdest. Danach rief ich sofort meinen Bruder an.«
»Du hast die Fesseln gelockert« setzte ich seine Worte fort. Alex grüne Augen leuchteten, wie er mich anblickte.
»Ja« bestätigte er.
Danach war alles eine Frage des Glücks. Ich kämpfte um mein Leben und um meine Freiheit. Wäre ich nicht im richtigen Moment gesprungen, so wäre ich jetzt nicht hier.
»Hätten sie mich tatsächlich erschossen?« fragte ich schwach.
Alex nickte und umarmte mich wieder. Ich spürte, wie seine heißen Tränen meinen Rücken hinunterflossen.
»Wieso?« Ich wusste noch immer nicht, weshalb sie mich eingesperrt hatten. Dass ich Flügel hatte, war keine ausreichende Erklärung. Schließlich hätten sie auch auf eine friedliche Art versuchen können, an die Informationen zu kommen und ich hätte vermutlich mit Freude kooperiert. Meine Flügel nicht mehr verstecken zu müssen, wäre eine schöne Vorstellung gewesen.
Aber das taten sie nicht. Sie schleppten mich an das andere Ende der Welt und hielten mich gefangen. Hätten sie mich erschossen, so wäre es das Ende gewesen. Sowohl für mich, als auch für das Institut.
»Weil sie brutal sind« antwortete mir Alex und fuhr mit den Fingern in meine Haare. »Der Boss hat einen Wutanfall bekommen, als er erfuhr, dass du dich nicht mehr bei den Duschen befindest und hat den Befehl erteilt, dich wieder einzufangen. Ob lebendig oder tot, das war ihm in dem Moment egal. Es war ein Wettkampf gegen die Zeit und gegen die anderen.«
»Den du gewonnen hast.«
»Nein, Blanka. Du hast den Kampf gewonnen. Ohne deine Hilfe hätte ich dir auch nicht helfen können« er nahm mein Kinn und hielt meinen Blick fest. »Du denkst dir vielleicht, dass ich ein perfektes Leben hatte. Einen perfekten Studienplatz und einen perfekten Job. Das war vielleicht vor vielen Monaten der Fall, doch jetzt könnte ich dieses verlogene Leben nicht weiterführen. Nicht mit dem Wissen, dass ich das Leben einer Person zerstört habe, die ich liebe« sagte er und küsste mich auf die Stirn.
Ich ließ mich auf das Bett sinken und verdeckte mein Gesicht. Seine Worte brachten mich durcheinander. Alex legte sich neben mich hin und zog mich an seine Brust.
»Wie geht’s jetzt weiter?« fragte ich nach langen, schweigsamen Minuten.
»Ich bringe dich nach Hause« antwortete er mir.
»Und danach?«
»Ich weiß es nicht« gestand er.
»Es wäre unvorteilhaft, wenn mich daheim jemand erblicken würde. Ich müsste mit Stella reden. Ach, meine Freundin fehlt mir so sehr« seufzte ich.
»Ich weiß, Blanka. Ich weiß« sagte Alex und drückte mich fester zu sich. »Es ist besser, vorsichtig zu sein und vorerst mit niemandem den Kontakt aufzunehmen. Wir wissen nicht, mit welchen Methoden uns das Institut sucht.«
»Zumindest meine Familie sollte wissen, dass ich noch am Leben bin. Jeder weitere Tag der Ungewissheit würde sie noch mehr zerstören.«
»Blanka…«
»Was ist mit Lucas? Darf ich mit ihm reden? Er würde die Situation verstehen und mich nicht gefährden…«
»Es hilft uns nicht, darüber zu spekulieren, wer dich gefährden würde. Ich fahre dich nach Hause und dann sehen wir weiter, ok?«
»Ok« willigte ich ein. Der Weg nach Hause würde nicht das Ende dieser Reise sein, sondern erst der Anfang.
Alex drehte sich überrascht auf den Rücken und starrte die Decke an.
»Immer wieder verblüffst du mich« flüsterte er erleichtert. »Es ist dir sehr wohl bewusst, was zu tun ist, aber du kämpfst dagegen an, weil deine Gefühle das Gegenteil wollen.«
»Alex… Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich nicht nach Hause kann. Und ja, ich kämpfe gegen das Logische an, weil mir meine Gefühle sagen, dass ich meine Familie und Freunde wiedersehen muss. Nach der langen Zeit im Institut möchte ich endlich wieder nach Hause. Auch, wenn dies nur für eine kurze Zeit möglich ist.«
»Ich kann dich vollkommen verstehen« sagte Alex. »Und ich gebe mein Bestes, um dir diesen Wunsch zu erfüllen. Heute Nachmittag besorgen wir uns einen Wagen und fahren los.«
»Schaffen wir es heute noch nach Hause?« wollte ich wissen.
»Nein, Liebes. Heute nicht mehr. Sobald wir in Österreich sind, suchen wir uns ein Hotel und ruhen uns aus. Auch ich bin vom Flug müde.«
Ich wollte mich auch auf den Rücken legen, aber in dem Moment glitt mein Blick zufällig auf die kleine Geburtstagstorte auf dem Nachttisch. Ich setzte mich auf und nahm sie in den Schoß. Die einzige Kerze war längst abgebrannt, der Wachs malte abstrakte Formen auf die Oberfläche der Torte. Alex setzte sich auch auf und betrachtete mit mir die Reste der Kerze.
»Wünsch dir was« sagte er.
»Das habe ich bereits« antwortete ich. »Wollen wir sie essen?« fragte ich und wischte die letzte Träne von meinem Gesicht. Mein Inneres tobte, doch diesmal war es ein Gefühl, das mich belebte. Ich spürte, wie die Hoffnung mir Kraft gab, wieder an eine Zukunft zu glauben.