Die Mondscheinserenade von Glenn Miller – natürlich im englischsprachigen Original – tönte aus den Lautsprecherboxen.
„Natürlich! Dein Lieblingslied mal wieder. Wird dir das nicht mal über?“ Simone rollte leicht genervt die Augen.
„Nö!“, kam die kurze und etwas flapsige Antwort.
„Warum habe ich nur gefragt?“ Scherzhaft boxte sie ihm seitlich in die Rippen.
„Au! Meine Schwester! Kaum sieht sie mich, möchte sie mich krankenhausteif schlagen“, rief er laut auf und gab ein Stöhnen von sich, das aber nicht verheimlichen konnte, dass er sich nur mühsam das Lachen verbarg.
„Das ist nicht lustig, Aaron.“ Simone wurde plötzlich ernst und ein trauriger Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. „Ich sehe dich kaum noch. Was ist nur los mit dir?“
Der Mann schüttelte bedauernd den Kopf. „Vater nimmt mich eben sehr in Beschlag. Du weißt doch, die Firma…“
„Das ist es nicht!“ Sie blickte ihn entschlossen an. „Was ist das, mit dir und Papa? Früher hattest du dich doch selbst immer darüber beschwert, dieser Geheimniskrämerei. Und nun bist du selbst so.“
Er seufzte vernehmlich. „Glaub mir, es ist gut, wenn du nicht alles weißt. Dieses Geschäft ist sehr verworren. Ich möchte dich nicht belasten.“
„Ach ja!“ Nun wurde sie wütend. „Glaubst du, SO ist es für mich einfacher? Zu spüren, dass du mir etwas verschweigst? Aron! Wir waren uns früher einmal so nahe!“
„Das sind wir uns immer noch, Schwesterherz!“
„Ach ja? Und warum all das hier?“ Sie deutete mit ihrer Hand auf die umliegenden Wände. „Sieh dich doch hier um. Das war deine Wohnung. Deine Bilder! Diese ganzen Fotografien an der Wand, diese malerhaften Landschaften. Die Kamera und du, ihr wart eins. Weshalb hast du das aufgegeben? Deinen großen Traum? Stattdessen jettest du in der Weltgeschichte herum, von einem Ort zum anderen!“
„So ist es nicht. Vater meint nur, dass...“
Die Frau sah zur Seite. „Ich verstehe dich nicht. Weshalb hast du dich von ihm breitschlagen lassen? Dieses Leben, das du führst, das passt nicht zu dir!“
„Es ist nicht so, wie du meinst. Wir sind oft längere Zeit an einem Ort, er und ich. Und oft auch abseits in entfernten Hotels oder Privatwohnungen. Durch das Internet müssen wir nicht an jedem Ort sein.“
Sie mied immer noch den direkten Blick, sondern starrte auf die ihr so bekannten Bilder. „Es sind keine neuen mehr dazu gekommen, nicht wahr? Ich meine... du hättest doch Zeit dazu, oder?“
„Das ist es nicht, Simone. Dass mit den Fotos, das war... bevor… ich brauche es nicht mehr. Es würde keinen Sinn machen.“
„Keinen Sinn? Ja, du hast wohl recht. Vieles hier macht keinen Sinn. Du hast plötzlich den gleichen Musikgeschmack wie unser Vater und hörst dir uralte Schlager an. Was ist an diesem Song bitte so besonders?“
„Es handelt um einen Mann, der sich erinnert. Was er mit seiner Liebsten alles gemacht hat. Im Mondschein. Etwas, was ich nie tun werden kann, obwohl ich es so gerne tun würde.“
„Was für ein Unsinn! Natürlich kannst du das! Natürlich nur, wenn du auch mal ausgehst und dir nicht nur für Papa den Arsch aufreißt.“
„Simone! Bitte! Wir sehen uns so selten, und nun streiten wir auch noch! Ich versichere dir, ich weiß, was ich tue. Vertraue mir einfach, ok?“
„Ich weiß nicht. Was soll ich nur tun? Du bist mir so fremd geworden, Aron. Du bist so anders, Aron!“
Aus einem Impuls heraus nahm er sie in die Arme. Viel zu sehr überrumpelt von dieser überraschenden Geste ließ sie ihn gewähren.
„Menschen verändern sich! Aber ich werde immer dein Bruder sein! Dein Aron, der dich liebt und dich immer beschützen wird. Wir früher, kleine Schwester.“
Sie spürte ganz deutlich seinen muskulösen Körper, gut versteckt unter seinem etwas zu großem Jogginganzug. Seltsam, früher hatte er immer enganliegende Kleidung getragen. Dieser Schlabberlook erschien ihr fast wie eine Verkleidung, so als wollte er seinen gut trainierten Körper verbergen.
Ja, er hatte sich wirklich verändert.
Während sie sich trostsuchend an seine Brust kuschelte, nahm sie den Geruch seines Aftershaves war. Ein seltsamer Duft, den sie nicht kannte. Etwas herbes und leicht moschusartiges, aber zugleich auch ein Geruch ähnlich Tannen und Blätter. Fast ein wenig nach Wald. Auf jeden Fall eine ungewöhnliche Kreation. Sie würde ihn bei Gelegenheit fragen, was es war.
Nun aber löste sie sich vorsichtig von ihm. Dieser kurze Körperkontakt hatte ihr ungewöhnlich gutgetan und sie fühlte sich seltsam getröstet. Hatte sie doch kurz das Gefühl gehabt, alles war gut und ihr Bruder seltsam stark und unbesiegbar.
„Alles wieder in Ordnung, Kleines?“, fragte er grinsend.
„Nenn mich nicht Kleines! Du weißt, dass ich das hasse.“
„Ja, natürlich habe ich das nicht vergessen.“
„Aaron!“ Trotzdem fühlte sie sich immer noch seltsam beruhigt und der Ärger wollte sich nicht wieder einstellen. „Du kommst aber morgen, oder?“
Die Mine seines Gesichts war ernst, aber er nickte. „Ja, morgen früh wird gehen. Wann ist es euch recht?“
„Mama wird noch einkaufen wollen. Sagen wir gegen 11.00 Uhr?“
„Ich werde da sein.“
„Gut. Sie wird sich freuen. Und ich auch!“ Ihre Stimme wurde leicht unsicher, als sie fortfuhr: „Wenn ich jetzt gehe, versprichst du, nicht einfach wieder heimlich aus meinem Leben zu verschwinden?“
„Nein. Versprochen! Wir sehen uns morgen!“
„Na, dann… etwas unsicher musterte sie die Türe. „Bis morgen…“
„Ja, bis morgen“
Er blickte noch längere Zeit auf die verschlossene Türe, durch die die sie seine Wohnung verlassen hatte. Fast so, als könnte er durch sie hindurchsehen.
Bedauernd schüttelte er den Kopf. Dass sein Verhältnis zu Simone nie mehr das alte sein würde, betrübte ihn sehr, aber war unvermeidlich.
„Zu deinem Schutz, Kleines. Und das unserer Mutter“, flüsterte er mit schimmernden Augen, die seltsam in der Dunkelheit leuchteten.
Einige Minuten stand der Mann noch regungslos da, bevor wieder Leben in ihn kam und er zu seinem Smartphone griff.
23.00 Uhr! Höchste Zeit, zu leben. Er hatte es schon lange genug unterdrückt.
Entschlossen ging er in sein Schlafzimmer. Rasch entledigte er sich dort seines Jogginganzugs sowie der Unterwäsche und warf alles achtlos auf das Bett.
Simones Ahnung war richtig gewesen – Aaron war äußerst sportlich und durchtrainiert. Kein Gramm zu viel auf den Rippen und auch seine Muskeln waren nicht zu übersehen.
Trotzdem wäre seine Schwester wohl nicht sehr erfreut gewesen, ihn so zu erblicken. Zahlreiche Narben, blaue Flecken und Bisswunden zierten seinen Körper und zeugten von mehreren Kämpfen, die der Mann bestritten hatte.
Ohne weiteres Zögern ging er nun zu einem der Fenster und zog den Rollladen hoch. Danach positionierte er sich im Vierfüßlerstand auf den Boden. Das fahle Mondlicht fiel direkt auf ihn.
Zunächst schien sich nichts zu verändern - doch dann forderte das Erbe seiner Familie, welches seit einigen Jahren auch ihn befallen hatte, seinen Tribut.
Ein Schaudern ließ ihn erzittern und eine Gänsehaut überzog seinen Körper. Haarbüschel entstanden aus dem Nichts und sprießten hervor, während sie sich vermehrten und zu einem schwarzen Fell wurden, das ihn komplett bedeckte. Die Arme verlängerten sich und erinnerten kurz an die eines Affen – dieses Bild verflog jedoch rasch als die Hände zu gefährlichen Klauen mit schwarzen Krallen wurden, begleitet von dem beängstigten Geräusch knackender Knochen. Möglicherweise kam dies aber auch von seinen Füßen, die sich in gleicher Form veränderten oder gar von seinem Gesicht. Hier blieb die Nase nicht mehr an ihrem Platz, sondern schob sich hervor, wurde größer und war schließlich eine Art Schnauze, die jedoch anlässlich des entstandenen großen Mauls fast ein wenig unterging. Spitze Zähne spiegelten sich im Mondlicht, alle makellos in einem matten Gelb; zwischen ihnen eine große grau- blaue Zunge, die hechelnd gleich die eines Hundes aus dem Maul herausragte. Zwei lebhafte buschige Ohren drehten sich wachsam und lauschten – die Nase nahm eine mögliche Witterung auf und zusammen mit den nun rot glühenden, aber seltsam intelligent wirkenden Augen war dieses Wesen, eine eigentümliche Mischung vom Wolf und Mensch bestens in der Lage, die Umwelt um sich herum klar zu erkennen und zu analysieren.
Mit einem klaren Ziel vor Augen und einem noch größeren Hunger trabte Aaron aus seinem Zimmer und seiner Wohnung, um sein neues Jagdrevier zu erkunden.