Tajen hörte das Wispern der Zrinnon im Wind und sog die Winterluft tief in seine Lungen. Einige seiner Dhrunuran konnten die Nachricht ebenfalls hören. Sie hatten die Augen geschlossen und wurden eins mit dem Segen der Göttinnen. Das war gut so. Nicht alle würden die Schlacht überleben, doch so waren sie den hohen Ebenen bereits nahe. Später würde Tajen den Verstorbenen danken. Die Körper konnte er nicht mitnehmen. Aber die ehrenvolle Würdigung ihrer Taten, die würde er mit dem Sold in die Heimat bringen.
Er blickte die Truppen an und lächelte. Mit dem Sterben musste man sich schon früh abfinden. Es machte ihm nichts aus, dass sie sich dafür bezahlen liessen, dem Tod in die Augen zu blicken. Die langen Nächte der Tenderis waren hart und gute Kämpfe machten das Leben spannend. Natürlich bedauerte er jeweilige Verluste. Aber so war es halt. Als Leri war es seine Aufgabe, gute Vorkehrungen zu treffen und die Verluste in seinen Truppen tief zu halten. Ihre Göttinnen schickten die Sylphen als Boten ihrer Wertschätzung. Und ein dunkler, fremder Gott würde ihren Lohn bezahlen. Wie hätte er da widersprechen können?
„Wie schätzt du das heutige Wetter ein, Godrin?“, fragte Tajen seinen Stellvertreter.
Dieser grunzte und strich sich durch den dichten Bart.
„Zu sonnig.“
Tajen schmunzelte. Vis Godrin war kein geborener Anführer, dafür war er zu wortkarg und zeigte zu wenig Initiative und Fantasie. Aber er war ein loyaler Mann mit starken Armen. Gross, breit wie drei andere und absolut willig, jede Schlacht zu gewinnen.
„Natürlich ist es sonnig. Wir wollen es den Darken nicht zu schwierig machen. Sonst kommen sie gar nie mehr aus ihrem Schneckenloch.“
Tajen war geduldig. Das goldene Reich hatte sich stark gewehrt, aber letztendlich hatte es ihnen nicht mehr als kleine Verletzungen zufügen können. Verletzungen, deren Narben sie mit Stolz tragen würden.
„Langweile mich jetzt schon. Sollten direkt angreifen“, schnaufte Godrin.
Natürlich klang das verlockend. Liskia war unvorbereitet und überfordert. Aber wäre es nicht unehrenhaft gewesen, wenn sie diesem Feind nicht wenigstens eine kleine Aussicht gönnten? Noch versteckte sich Liskia hinter seinen starken, strahlenden Mauern, aber das änderte sich bald. Seine eigene Ehre würde das Heer auf die ungeschützten Felder verdammen und an diesem Ort würde es vernichtet. Danach blieb genug Zeit, die Stadt trotz der starken Schutzzauber zu erobern.
„Nicht mehr lange, Godrin“, versprach Tajen, „und Liskia wird uns gehören. In diesem Moment kämpfen unsere Geschwister bereits an anderen Orten und wir werden ihnen folgen.“
Die Darken hatten wenig vorzuweisen. Tajens Vorfahren hingegen waren mächtige Leute gewesen. Dimraein nannte man sie. Hochalben, Zeitlose aus der Welt Ruija, von der Göttin des Eises und der Höhen erwählt und ausgebildet. Wenige von Tajens Volk, den Isen, teilten heute noch ihre Langlebigkeit. Tajens Augen waren nicht golden, und sein Haar nicht in einer Farbe des Himmels und der Nordlichter. Doch er war gross gewachsen und obwohl er ein Mensch war, war seine Seele eine der ihren. Er hatte Nuiras Schwur auf sich genommen und trug ihr Erbe stolz auf der Haut. Tajen hatte die verschiedenen Familien der Tenderis einmal mehr geeint und die sieben Städte verbunden. Gahlaria wurde auch der Kontinent der starken Winde genannt. Tajen aber war ein Sturmbändiger und mit ihm tobte ein wahrer Sturm über das Land.
Godrin schwieg. Er konnte keine Hochalben zu seinen Vorfahren zählen. Er besass keine aktive Magie in seinem Blut. Trotzdem kannte er seinen Platz besser als so manches junges Nachwuchstalent und wusste, wann es nichts zu sagen gab.
„Mor Phanin, heute ehren wir die Göttinnen mit Blut und unsere Familien mit Sicherheit“, begann Tajen seine Ansprache. „Ihr kennt den Auftrag und ihr kennt den Preis! Ihr kennt die Gefahr und den Lohn! Die Vorgabe des Solds wurde so gerecht unter euch verteilt, wie ihr euch selbst gerecht nennen dürft! Der Rest kommt mit dem Frühling, dem Frühling und dem Ächzen unseres Feindes unter der Lawine, die wir Tenderis nennen!“
Die Dhrunuran gaben einen einstimmigen Ruf der Bestätigung von sich.
„Wenn die Mittelländer glauben, die bisherigen Winter seien hart gewesen, werden wir sie nun eines Besseren belehren! Die Zähne unserer Waffen sind Eis!“
Sie brüllten ihm als Antwort die Namen ihrer Heimatorte entgegen. Sie schlugen die Enden ihrer Waffen auf den Boden, stampften und klatschten einen langsamen Takt. Tajen hob die Arme, um die Geschwindigkeit anzutreiben.
„Nuira leitet uns und ihre Kälte lähmt den Feind!“, rief er.
„Blut tropft auf Schnee!“, antworteten seine Leute, weiterhin den Takt schlagend.
„Sie leitet uns und ihre Tochter schreit in unserem Innern!“
„Sie wird gesättigt und das Gras spriessen!“
„Liskia wird fallen und wir werden die Göttinnen auf ihrer wilden Jagd begleiten, sofern es ihr Wille ist! Aber davor werden wir leben, kämpfen und siegen!“, endete Tajen.
Die Dhrunuran wiederholten seine letzten Worte. Leben. Kämpfen. Siegen. Drei Schläge trafen den Boden, dann waren sie alle ruhig, sogar die grössten Schwätzer schwiegen andächtig und sahen zu ihrem Leri hinauf. Tajen schloss die Augen und lauschte. Seine Leute warteten. Tajen harrte noch kurz aus, genoss die kühle Brise, dann senkte er die Arme.
„Der Nordwind ist mit uns!“, verkündete er deutlich.
Wieder brüllten Tajens Untergebenen und diesmal streckten sie ihre Waffen hoch in Richtung Himmel. In den zwei schweren Eisenkäfigen hinter ihnen kreischten die Firanin laut auf, als wüssten auch sie, dass es nicht mehr lange gehen konnte. Es handelte sich nicht um kleine Eisbeisser oder Trugflocken, sondern echte Eisriesen, monströse Kinder der wilden Göttin. Es hatte Tajen einige Arbeitskräfte aus den Tälern als Köder gekostet, sie einzufangen. Vier hatten sie noch. Eine riss in diesen Momenten den Norden des Landes auf, die andere den Süden. Diese zwei aber hatte Tajen für Liskia aufbewahrt und sie warteten bereits hungrig und von der Wärme des Mittellandes besonders gereizt auf ihre Opfer.
Tajen hörte ein Zischen. Er roch und schmeckte die unverkennbare Würze von Nelken, als das Signal des Heerführers als ein rotes Licht über den Feldern aufblitzte. Es war so weit.
„Dhru moto, Godrin“, wünschte Tajen seinem Stellvertreter.
„Dhru moto, Leri“, erwiderte Godrin.
Gemeinsam mit dem Rest des Heeres liefen sie Liskia entgegen. Godrins Truppen bogen bald gegen rechts ab, während Tajen mit seinen weiter geradeaus marschierte. An mindestens einem der Tore würden sie durchbrechen. Die Stadt schimmerte ihrer Schutzzauber wegen und liess die weissen Mauern strahlen. Die Gegenwehr aber, die vor dem Stein Stellung bezogen hatte, wirkte klein und matt. Sie konnte das Heer nicht einmal anmarschieren sehen. Ein starker Trugzauber war um sie alle gewebt und bildete einen düsteren Kontrast zu der Stadt. Tajen glaubte nicht, dass diese Strategie ihnen einen tatsächlich Vorteil brachte, aber der Heerführer schien Gefallen daran zu haben, seine Gegner unvorbereitet zu treffen und sich an ihrem jähen Grauen zu laben. Die Mittelländer hatten zwar auch im Boden Abwehrmechanismen versteckt, doch nichts davon würde halten. Der erste Stein flog über die mittländischen Truppen hinaus direkt gegen die Stadtmauer und mit dem Schlag zerfiel auch der Trugzauber. Die Luft zitterte, als Liskia die Übermacht erkannte.
Die Reihen trafen aufeinander. Als die Grenzen ihrer Heere zu einem bunten Gewimmel wurden, hob er seine Hand und pfiff. Die Käfige wurden geöffnet und die Firanin drängten sich hinaus. Sie schlugen sofort grosse Schneisen in das Kampfgeschehen. Gezielt packten sie Leute mit dem goldenen Wappen auf der Brust, schlugen Pferde zur Seite und zertrampelten gestürzte Feinde. Manche Drakar besassen praktische Kräfte, das konnte Tajen nicht verleugnen. Sie steuerten die Eisriesen, als wären sie Puppen.
Der äusserste Schutzzauber knirschte. Er wurde bereits schwächer. Tajen fiel eine besonders starke Aura auf der Mauer auf. Sie schützte eine darkische Einheit mit einem Zauber.
Der erste Gegner erreichte Tajen mit einem verzweifelten Schrei. Tajen hob sein nordisches Schwert und liess es auf ihn niederfahren. Auf ihn, die nächste und alle danach. Nur eine einzelne Darke konnte Tajen treffen und der Angriff war zu schwach und ungezielt, um seine Lederrüstung zu durchtrennen. Bemitleidenswert.
Ein Ritter unterschätzte, wie lang die Arme der Firanin tatsächlich waren. Die Bestie schlug ihn mit der Rückhand vom Pferd. Tajen achtete sich nicht weiter auf den zu Boden gegangenen Mann. Einen bereits besiegten Feind zu töten, war nicht ehrenvoll. Er war mehr an dem Reittier interessiert, so unschuldig weiss wie frisch gefallener Schnee, das ohne seinen Reiter in jähe Panik geriet. Tajen packte die Zügel und Mähne. Mit einer gekonnten Bewegung schwang er sich in den Sattel und brachte das Tier unter Kontrolle. Wusste man mit den Pferden umzugehen, wusste man auch mit den eigenen Truppen umzugehen, hatte die Leri vor ihm einst gesagt.