Die Schwarzmagie wich aus seinem Körper und doch konnte Trigon sich kaum regen. Der dicke Stoff des Banners lag wie eine alte Decke über ihm und doch war ihm kalt. Die Decke schützte ihm vor dem Anblick des Thronsaals, nicht aber vor der Erinnerung. Trigon konnte selbst mit geschlossenen Augen nicht wegsehen. Immer wieder und wieder und wieder tanzten all die Momente seines heutigen Versagens vor ihm. Spielten mit jeder noch so alten Wunde und bohrten sich tief in die Löcher, die die Schemen in ihn gerissen hatten.
Der König war tot. Der König hatte eine Klinge am Hals gehabt und Trigon hatte an der Tür gestanden und viel zu lange gezögert. Ein echter, treuer Ritter hätte ihn retten können.
Trigon zog das Banner von seinem Körper. Er stiess Luft aus. Er riss sich vom Rücken auf den Bauch. Der Boden bestand aus Nadeln. Er drückte dagegen und raffte sich vom Bauch auf die Knie. Der Raum schwappte nach links und rechts wie ein aufgewühlter See. Trigon fand seine Füsse und streckte sich, um nicht darin ertrinken zu müssen. Er hörte keine Schreie, keine aufeinanderprallenden Waffen, keine Steine im Mauerwerk, nichts. Nichts.
Der Leichnam des Königs war noch da. Trigon stand auf einmal vor ihm. Der König war tot und die Königin und ihre Kinder hatten noch vor ihm sterben müssen. So viele waren heute von den Schemen verschlungen worden. Was war denn noch übrig von Liskia?
Er hätte es verhindern müssen. Das hier war seine Schuld. Er war der Magier, doch seine Magie, nein, er als Person hatte versagt. Der Heerführer hatte ihn so leicht aus dem Weg geräumt. Er hätte ihn töten sollen.
Ein kläglicher Schrei durchstiess das Nichts, in dem Trigon badete. Klirrend helle Worte prasselten wie Hagel gegen ihn. Doch konnte Trigon sich nicht rühren. Da war eine Bewegung am Rande seines Blickfeldes. Der Heerführer war zurückgekehrt. Er würde ihn töten.
Trigon zuckte, als sein Gesicht zur Seite gerissen wurde, ihn vom Anblick des toten Königs bewahrte und gleichzeitig dazu verdammte, all die anderen Toten zu sehen. Beim Eingang kauerte Prinzessin Lia. Gestern erst hatte sie ihren Geburtstag gefeiert. Heute war sie tot. Neben ihr kniete Geoffrey Trath. Er hätte mit Trigon auf der Mauer sein sollen, damals, als er das alles vielleicht noch hätte verhindern können. Er war nicht dort gewesen und nun kannte Trigon den Grund. Direkt vor ihm stand Ira van Niderborgen. Ihre Augen glühten purpurn und auch der Rest ihrer Aura flackerte, war in die Schemen der Karosyarran getränkt. Sie hatte die königliche Familie nach Nava, in die Falle gebracht. Sie hatte sie alle hergebracht, um Trigon zu verhöhnen. Die Schemen zischten auf seiner Rüstung und brannten in ihm. Sie verschlangen ihn gemeinsam mit der Stadt.
Stolpernd erreichte Trigon die Studienhalle. Er wusste nicht, wie er hergekommen war. Er hatte nicht weit fliehen können. Er war sich sicher, würde er sich umdrehen, würde er sie wieder sehen, die Schemen, das Blut, die Leichen und das Eis. Er schlug den Torflügel zu und hielt sich an einem Regal fest. Er würgte, sein Körper zitterte und er war sich sicher, dass er gar keine Energie mehr haben konnte zu leben. Dass er noch immer am Boden lag, von der Magie des Heerführers tödlich getroffen und seine schwindenden Gedanken ihm diese Bilder zeigten. Die Bibliothek wirkte so ruhig. Vor wenigen Stunden erst war er hier gewesen und hatte am Bannzauber gearbeitet. Er hatte nie geglaubt, dass er die Stadt wirklich retten konnte, aber gehofft hatte er es. Er hatte es sich so stark gewünscht. Es war so ruhig in der Bibliothek. Alles so unberührt, als hätte es nie einen Angriff gegeben. Trigon schloss die Augen und das einzige, das ihn davon abhielt wegzudämmern, war ein sanftes, warmes Kribbeln in seinem Körper, das das Zittern und die Kälte nach und nach vertrieb. Seine Magie. Diese verräterische Magie. Sie war zu ihm zurückgekehrt. Sie trieb ihn hierher.
Trigon blinzelte und für einen Moment vergass er alles rundherum, konnte dem Schrecken entfliehen. Der Tag war inzwischen genug vorangeschritten, um helles Licht durch die bunten, verglasten Fenster in die Gänge zu spülen. Wie Schimmer tanzten Staubkörner im Licht an den dunklen Regalen und unzähligen Büchern vorbei, versprachen Sicherheit. Die Bibliothek war eine schillernde Blase, doch auf einem der Tische in ihr lagen Trigons Unterlagen, wie er sie zurückgelassen hatte. Der Bannzauber rief nach ihm.
Etwas knackste. Das Kribbeln in Trigons Fingern wurde zu rauer Energie, einem weiteren ungezielten und gefährlichen Zauber. Die scharfen Splitter verfehlten das alte Gesicht nur knapp, rissen die grosse Mütze mit sich und liessen den Mann erschrocken quietschen, der doch gar kein Feind war.
„… Trigon, mein Junge! W-Was tust du hier? Wie ist dir geschehen?!“
Trigons Mund war trocken und die Panik, die Enttäuschung und der Ekel im Antlitz seines Mentors waren deutlich sichtbar. Er floh in den hinteren Teil der Halle, kam gerade noch bis zu dem Tisch mit seinen Unterlagen. Liskia besass nur wenige magische Bücher. Er hatte sie alle bereits oft gelesen. Der Sirring besass einige mehr, aber auch diese hatten sich in seinen Fingern klein und nutzlos angefühlt. Es war wie ein Wunder gewesen, als er doch ein Exemplar mit vielversprechendem Inhalt gefunden hatte, eine unerwartete Intuition. Ein dünnes Buch nur, ein gebundener Haufen einzelner Notizseiten eher, mit einer Sammlung verschiedener Bannsprüche, einige bekannt, andere beinahe verloren geglaubt. Da lag es immer noch und versprach ihm so viel.
Trigon spürte, wie endlich Speichel zurück in seinen Mund kehrte, als er sich an die Worte des Zaubers erinnerte. Selbst seine Lesebrille lag noch da. Er war so müde gewesen. Seine Hände waren voller Blut und Tod und seltsamerweise konnte Trigon nur daran denken, wie schade es war, damit ein so wertvolles Werk zu berühren und besudeln, als seine Finger bereits darüber strichen. Er setzte seine Brille auf. So fragil wirkte das goldene Metall zwischen seinen gepanzerten Handschuhen. Was war schief gegangen?
Nyv Ruelimra-Dava.
Der neutrale Bannzauber gegen das Böse.
Der alte, so vielversprechende Bannzauber befand sich direkt vor ihm, wartete darauf, endlich eingesetzt zu werden und sie alle zu retten. Im Gegensatz zu den meisten Formeln war er nicht einer Gottheit zugeordnet. Ob der Name bei der Übersetzung verloren gegangen oder nie da gewesen war, wusste Trigon nicht. Vielleicht war der Zauber eine Art Muster gewesen für spätere, gezieltere Bannzauber? Oder er war etwas ganz anderes, unabhängig, und behauptete darum von sich, das Böse selbst zu fangen? War es noch nicht zu spät?
Die Worte kamen bereits aus ihm heraus. Die Schutzzauber der Stadt waren gebrochen und das Siegel offen, aber nicht zerstört. Kaum war er über die erste Zeile hinaus, konnte er spüren, wie sich ihr Netz mit seiner Seele verband. Trigon stolperte oft über seine Zunge, aber nicht bei solchen Dingen. Nicht bei der alten Sprache, nicht wenn die Worte wie ein Lied erst seinen Bauch, dann auch die Brust und bald den Kopf füllten. Sein Herz pochte und sein Kopf pochte mehr, als würde die Magie dagegen drücken und durch eine Barriere brechen wollen. Trigon durfte diese Barriere nicht verlieren, weil sonst die Magie nicht mehr seine wäre und ihn und auch alles rundherum zerstören würde. Für einen Moment verlor er tatsächlich beinahe die Kontrolle und Angst breitete sich in ihm aus, denn er konnte den Zauber nicht mehr stoppen. Das Netz um ihn war so gross, so mächtig. Es hielt ihn. Es hielt.
Der Zauber entfaltete sich mit aller Stärke, die Trigon ihm leihen konnte und es wurde hell um ihn herum, als sein Körper mitsamt Rüstung zu glühen begann. Diesmal waren es keine Schemen, sondern Gäas Schimmer, die sich auf seine Rüstung legten und durch ihn hindurch katalysiert in die Höhe schossen. Trigon war geblendet und auch seine restlichen Sinne funktionierten nicht mehr, aber sein Gespür für die Magie reichte so weit wie noch nie zuvor. Er war eins mit dem Zauber, der sich als als wunderschöner, schillernder Schleier über die Stadt legte. Ähnlich der normalen Schutzzauber umhüllte er Liskia bald vollkommen, aber er war kein Schild, sondern eine Waffe. Stränge der Magie schossen durch die Gassen, alles flimmerte und selbst einfache Leute mussten die Magie sehen, hören und ertasten, vielleicht sogar riechen und schmecken und garantiert spüren können! Sie ging durch jeden hindurch. Drang in alle ein und testete sie. Feinde, Verbündete, Menschen und Zwischenwesen. Trigon spürte für einen Moment die verschiedenen Seelen, als wären sie bei ihm.