Nichts in Trigons kleiner Kammer besass eine Farbe. Jede Oberfläche fühlte sich wie kalte Asche an. Nichts bewegte sich. Nichts. Trigon kam sich so fremd vor, so weit entfernt. Sie hatten alles verloren.
Seine Sachen waren schnell gepackt. Viel war nicht übrig, ohne die Rüstung. Ohne sein Amt. Er benötigte nichts. Hatte nichts verdient.
„Trigon“, wisperte jemand hinter ihm.
Trigon spürte die Magie durch seinen Körper schiessen. Spürte sie wie Dornen seine Fingerspitzen stechen. Aber es war kein Feind. Es war Jeanne. Wann hatte sie das Zimmer betreten? Er hatte sie nicht klopfen gehört, hatte die Tür nicht knarren vernommen.
„Kann … ich dir behilflich sein?“, fragte Jeanne und klang so zerbrechlich.
Sie konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte das und Jeanne durfte ihm nicht helfen. Was hätten die Leute gedacht? Hätten sie Jeanne dann ebenfalls angeklagt? Das durfte er ihr nicht antun. Sie war ein Vorbild.
„Trigon“, sagte sie etwas lauter.
Trigon blinzelte. Er verräumte sein letztes Buch in seiner Reisetasche und drehte sich um.
„Du solltest nicht mit mir gesehen werden.“
„Es ist nicht gerecht, Trigon. Bleib. Sie werden ihre Meinung ändern!“
Jeanne wirkte müde, so unglaublich müde. Doch sie trug bereits wieder eine Rüstung. Nur die leichte diesmal, die doch so wenig aufhalten konnte. Ihr Schwert war umgeschnallt.
„Ich … i-ich habe alles f-falsch gemacht, Jeanne. Ich habe sie sterben lassen.“
„Du hast getan, was du konntest. Es war nicht dein Fehler, dass –!“
Trigon schüttelte den Kopf und lief zügig an ihr vorbei. Er zuckte, als Jeannes kalter, dicker Handschuh seinen Arm streifte. Fort. Er konnte nur noch fort. Hier hielt ihn nichts.
„Lass mich dir doch wenigstens helfen, Trigon“, drängte sich Jeanne wieder auf, folgte ihm. Sie konnte nicht verstehen, dass es ein Fehler gewesen wäre. Sie war so stur.
„Ich kann doch nicht einfach da stehen und … u-und zusehen! Es sind noch so viele da draussen. Wir brauchen dich, Trigon. I-Ich brauche dich.“
„Es tut mir leid, Jeanne.“
Er beschleunigte seinen Schritt, sie aber hielt. Er hörte sie seinen Namen rufen, hinter ihm im leeren, grauen Gang. Er liess die Mauern hinter sich, erreichte den Hof und erstarrte. Das Eis. Seine Opfer. Sie lagen nicht mehr da. In der Ecke standen zwei, in dicker Kleidung, mit Handschuhen und Stoffmasken vor dem Gesicht. Sie versuchten den Hof von dem dunklen Schleim und dem Blut zu befreien, das von der Leiche des Vampirs übrig war. Den bleichen Knochen. Als sie ihn bemerkten, hielten sie aber inne. Sie erstarrten genauso wie er. Trauten ihm nicht. Sahen ihm nach, bis er das zerstörte Tor hinter sich gelassen hatte.
Um die Kaserne stand es noch schlimmer. Hier waren die Toten noch nicht versteckt worden. Stattdessen sammelten sie die Körper auf dem Übungsfeld. Versuchten sie so gut wie möglich zu trennen. Einfache Soldaten, Zivilisten, Ritter und Feinde. Die Feinde standen oben, beobachteten das Geschehen. Trigon war übel, aber sein Magen war so leer wie sein Kopf.
Bei den Ställen standen ebenfalls Feinde, überwachten das Kommen und Gehen aller. Trigon erkannte die eine Barbarin unter ihnen, die ihn verhöhnt hatte. Sie trug ihren rechten Arm in einer Schlinge und stand nicht ganz so gerade wie die anderen. Doch selbst jetzt hielt sie eine Waffe bei sich und sie lächelte, als sie ihn ebenfalls erkannte. Trigon hatte niemanden töten wollen. Doch er hätte sie töten sollen. Er hätte den Heerführer töten sollen, als er die Gelegenheit hatte. Hätte ihn bannen sollen. So vieles hätte er anders machen müssen.
Nur wenige Pferde waren noch in den Stallungen übrig. Eins hatte in der Panik der Schlacht so stark gegen seine Box getreten, dass das Holz zersplittert war, die Beine des Tieres blutig gemacht hatte. Seine Firnin war noch da. Trigon drückte sein Gesicht in ihre dicke, schwarze Mähne. Sie war nicht wie die anderen Pferde. Sie war ruhig. Ganz ruhig. Sie neigte ihren Kopf und knabberte etwas an seinem Umhang. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Hier hielt ihn nichts.
Trigon sattelte Firnin. Er befestigte die Reisetasche an ihrer einen Seite, sein Schwert an der anderen. So wenig Gepäck nur. Aber das Schwert nahm er mit. Er würde es vielleicht brauchen, auf dem Weg nach Norden mit seiner Familie. In den Norden. War es da denn besser? Der Heerführer hatte Söldner von dort auf seiner Seite. Es war nirgends sicher für sie. Aber dort wäre er tatsächlich kein Ritter. Niemand würde ihn kennen. Und trotzdem konnte er das Schwert nicht hier lassen.
„He. Niemand darf die Stadt verlassen ohne eine direkte Erlaubnis von Herrin Blodyn.“
Die Feinde stellten sich vor ihm und Firnin auf, versperrten ihm den Weg.
„Lasst mich durch“, sagte Trigon. Keine Bitte. Seine Worte waren kalt.
„Ein sehr schönes Pferd hast du da, Blechpanzer. Wirklich schön. Vielleicht machen wir für dich eine Ausnahme, wenn du es bei uns lässt“, säuselte diese eine Barbarin. Eine andere streckte die Hand nach Firnin aus.
„F-Fasst sie nicht an!“, drohte Trigon, aber die Frauen lachten nur.
„Du machst niemandem hier Angst ausser deinen eigenen Leuten, Magier. Wir haben es schon gehört. Du brauchst diese Sachen nicht mehr.“
Sie kamen näher und Trigons Atem wurde schwer. Er fühlte das Eis. Er sah das Blut. Die Schemen zerrten an ihm. Es war zu viel. Zu viel.
Ein lauter Ruf liess die Barbarinnen innehalten und holte Trigon aus dem Sog. Die Welt wurde wieder klarer, nicht aber bunter. Jeanne war ihm doch gefolgt. Sie war hier und sie stellte sich zwischen ihn und die Frauen. Trigon zitterte. Sie war so strahlend. Eine kleine Sonne aus einem fernen Wald. Sie konnte nicht mit ihm verwandt sein.
„Lasst ihn!“, fauchte Jeanne die Gruppe auf Westen an.
„Der einzige Grund, weshalb jemand von euch gerade raus muss, ist zum Aufkratzen der Leichen. Dafür braucht es kein Pferd und kein Gepäck“, erwiderte die Barbarin.
„Ihr werdet ihn gehen lassen“, wiederholte Jeanne eindringlich, Hand am Schwertknauf.
„Wir hören nicht auf euch Ritter und erst recht nicht auf eine Elfenfreundin“, zischte die Barbarin und schnippte gegen den Citrin, den Jeanne um den Hals trug.
Jeanne war bereit, ihre Waffe zu ziehen. Trigon konnte nichts tun ausser da stehen. Zusehen. Er musste etwas tun. Er konnte nichts tun. Er machte alles nur schlimmer.
„Meine lieben, lieben Frauen! So beruhigt euch doch!“, mischte sich eine neue Partei ein und schob sich zwischen die Barbarinnen und Jeanne. Diesmal war es Ugos. Ugos. In Trigons Mund schmeckte es auf einmal bitter.
„Frau Blodyn, eure ähm Herrin, handelt in diesem Moment das weitere Vorgehen zwischen euch und der Stadt mit Liskias Rat aus. Gewiss wäre es doch äusserst unschön, wenn wir diese Verhandlungen mit einer unnötigen Auseinandersetzung besudeln würden. Es wurde heute auf beiden Seiten genug Blut vergossen, viel zu viel, das muss doch uns allen klar sein.“
Die Feinde schnauften verächtlich, doch sie machten tatsächlich einen Schritt nach hinten. Trigon sagte nichts. Er verstärkte seinen Griff um Firnins Zügel und nutzte die Lücke, um zu gehen. Jeanne verstand diesmal und folgte nicht. Ugos hingegen war noch nicht fertig.
„Ach, Trigon. Mein Junge. Das tut mir alles so leid, das hätte nicht so kommen dürfen. Ich habe versucht, noch einmal mit Lia und den anderen zu reden, aber gerade ist zu viel los, alles ist noch zu frisch. Vielleicht in ein paar Tagen oder Wochen, dann …“
Trigon schaute seinen ehemaligen Mentor nicht an, blendete seine Worte aus. Er richtete seinen Blick auf das Pflaster unter seinen Füssen, versuchte nicht das Getuschel aller rundherum zu hören. Ugos hatte ihn vor Lia und dem Rat blossgestellt. Was wollte er denn jetzt noch? Es war vorbei. Nichts war vorbei, und der Frühling so fern.
„… du enttäuscht mich gerade schon etwas, Junge. Ich hoffe, dass dir das klar ist“, sagte Ugos auf einmal.
Nun schaute Trigon ihn doch an. Natürlich war es ihm klar. Aber es tat weh, es nun so direkt zu hören. Die Bestätigung all seiner Vermutungen zu erhalten.
„Du glaubst es auch … Du g-glaubst … d-dass ich zu ihnen gehöre.“
Ugos’ altes Gesicht war mitleidig. Voller Selbstmitleid.
„Zum Feind? Nein, nein! Nicht doch! Es ist nur … Das ist alles sehr kompliziert gerade, aber da kannst du nichts dafür.“
„Ich habe … Meinen Posten verlassen. Ich konnte den Zauber nicht kontrollieren. I-Ich … konnte niemanden aufhalten. Der Heerführer hat mich n-nicht getötet.“
„Trigon …“
Trigon wischte Ugos’ Hand weg. Sie hatten das Tor erreicht. Auch hier standen Feinde und beobachteten sie misstrauisch. Trigon achtete nicht auf sie. Er schwang sich auf Firnin und ritt los. Sollte Ugos mit ihnen reden, das konnte er doch so gut. Trigon hielt hier nichts mehr.