Die Luft war kalt. Es war früh am Morgen und früh am Morgen war es immer kalt. Aber heute? Heute war es wirklich, wirklich kalt! Vielleicht genug kalt für Schnee?
Daughn sog die Kälte tief ein, hauchte sie dann aus. Vor ihrem Gesicht entstand eine weisse Nebelwolke. Daughn atmete wieder ein und noch stärker aus. Auch diesmal entstand eine Wolke, ganz kurz. Wunderschön lustig war es und wenn sie es oft genug machte, dann würde es ganz bestimmt schneien kommen!
„Daughn! Näin, Daughn! Nicht zaubern!“, rief Ailée von der Tür aus.
„Was? Ich zaubere gar nicht!“, antwortete Daughn und schnaufte.
Sie fand das ganz und gar nicht lustig. Das war schon das dritte Mal, dass Ailée so etwas behauptete! Dabei war Daughn artig und hörte auf ihre Eltern. Sie war zu jung alleine zu zaubern. Bald war sie sicher alt genug. Aber solange sie das nicht durfte, machte sie es nicht. Daughn war artig und daran änderte sich nichts, egal wie oft Ailée zu Mutter rannte! Ailée war die einzige, die wirklich log. Daughn war artig. Sie hatte seit der Sache mit Mimi nur zweimal versucht zu zaubern und dann war niemand in der Nähe gewesen, erst recht nicht Ailée.
„Doooch! Ich hab es gehört! Du hast Wunder gesagt und ich hab es gesehen!“
Ailée rannte zu ihr und schubste sie. Daughn stolperte nur leicht nach hinten, aber empört war sie fest! Sie log nie, niemals! Sie schaute nachdenklich ihre kleine Schwester an. Sie hatte nicht gezaubert. Aber war es schlimm, wenn Ailée das glaubte? Wirklich lügen war das nicht, es war nur schelmisch sein. Rian und Jan waren ständig schelmisch.
„Pfs! In Ordnung. Ailée, du hast recht. Du hast mich erwischt. Ich habe gezaubert. Aber das darfst du niemandem niemals sagen.“
„Doch! Ich sage es Mami!“
Daughn beugte sich zu Ailée hinunter und versuchte ganz finster-fies zu lächeln. Sie fand, dass ihr das gut gelang.
„Du kannst ihr das nicht sagen, sonst verzaubere ich dich auch und lasse dich verschwinden.“
Ailée schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf, aber Daughn packte sie und hielt sie fest, als sie bereits wieder davonlaufen wollte.
„Du musst mir versprechen, nie mehr zu lügen, Ailée! Jetzt gleich!“
„Ich lüge nicht! Ich habe dich gesehen, Daughn!“
„Du hast gar nichts gesehen und du wirst jetzt nie mehr etwas sehen!“, entschied Daughn und hielt eine Hand vor Ailées Gesicht. Ihre Schwester sah wie ein kleiner Apfel aus. Trotz der Wollmütze, die ihr ganzes Gesicht umrahmte, hatte sie rote Wangen.
„Oh, Schimmer und Schemen! Mit meiner Magie verfluchte ich meine Schwester Ailée, denn sie ist eine Lügnerin! Sie darf nie mehr eine Petze sein, sonst wird sie … blind!“
Daughn packte Ailées Mütze und zog sie ihr tief ins Gesicht. Ailée kreischte, riss sich von Daughn los und fiel rückwärts auf ihren Hintern. Sie kreischte weiter, als sie sich umdrehte, ganz der Länge nach auf den Boden warf und im Schmutz rollte. Ihr schöner heller Wintermantel war sofort nicht mehr schön und hell. Ganz kurz kriegte Daughn Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Aber dann erinnerte sie sich: Ailée machte genau das auch ab und zu, wenn sie nicht ins Bett wollte. Und Hanna, die sie ins Bett bringen sollte, hatte bestimmt keine Magie. Ailée war halt ein Theater.
„He, was macht ihr Förigen für Unsinn!“, rief auf einmal Jan.
Er kam zu ihnen und schaute Daughn streng an. Daughn schob die Unterlippe vor und starrte zurück. Als wäre sie daran schuld, dass Ailée immer anstrengend war!
„Gar kein Unsinn! Ailée ist ein Theater und eine Lügnerin!“, verteidigte sich Daughn.
Ailée hatte inzwischen bemerkt, dass sie nicht wirklich blind war. Sie setzte sich auf und glotzte Daughn kurz fest böse an. Dann schielte sie zu Jan und fing an zu weinen. Theater!
„Ach, Daughn. Was machst du? Du hast sie zum Weinen gebracht! Sie ist erst frisch vier und wie alt bist du? Du solltest das besser machen!“, tadelte Jan.
„Aber … es war nur ein Schelm-Streich! Das machst du immer!“, widersprach Daughn.
Auf einmal fiel es ihr schwer, die Worte gut aus dem Mund zu kriegen. Ihr Gesicht fühlte sich heiss an, obwohl es doch kalt war heute. Sie wollte nicht weinen, aber Jan war nicht fair zu ihr und Ailée erst recht! Sie hatte nichts falsch gemacht und selbst wenn sie wirklich, wirklich gezaubert hätte, dann wäre das doch nicht falsch gewesen?!
Jan gab ein lautes und sehr genervtes Geräusch von sich. Daughn schniefte und schaute zu, wie er sich zu Ailée kniete und sie tröstete. Ailée heulte noch dreimal laut, wie eine Ziege klang sie dabei. Aber dann hörte sie bereits auf und nur ganz kurz wünschte sich Daughn, sie hätte Ailée tatsächlich wegzaubern können. Zumindest für einen Tag.
„Wenn du das einen guten Streich nennst, Daughn, dann musst du aber noch viel lernen!“, verkündete Jan, sobald Ailée sich beruhigt hatte. „Rian und ich müssen dir das wohl bald beibringen.“
„Näin, danke. Ich lerne lieber wichtige Sachen. Rian und du seid nämlich die grössten Förigen“, schnaufte Daughn.
„Gar nicht wahr“, entgegnete Jan und zog Ailée auf die Beine.
„Doch sehr wahr“, murmelte Daughn.
Da gab Jan keine Antwort mehr, denn er wusste, dass es stimmte. Geschah ihm recht.
„Rian und ich wollen Gäa ein gnädiges Opfer machen! Macht ihr mit?“, fragte Jan.
„Ein Opfer?“, wiederholte Daughn unsicher.
Sie blinzelte und dachte nach. Jan hatte ihnen gestern Abend von einem grossen Opfer aus einem Sagenbuch vorgelesen. Er machte es nicht so oft, aber ab und zu konnte Mutter ihn überzeugen. Dann las Jan ihnen etwas vor, so wie er es Vater versprochen hatte. Vater war schon wieder so lange weg. Daughn hoffte, dass es ihm gut ging.
„Ja-ah! Eine Opfergabe, meine ich. Wir gehen zum Apfelbaum, denn Äpfel sind ein Symbol der Allmächtigen, und dann schenken wir ihr alle gemeinsam eine Opfergabe für gutes Glück und einen schönen Segen.“
„Ist es nicht besser, wenn wir dafür zum Schrein hochlaufen?“, fragte Daughn, aber Jan winkte ab und Ailée hörte sowieso schon nicht mehr richtig zu.
„Jo, aber das macht Mutti doch schon, doppelt bringt das nichts. Wir machen es hier als kleines Geheimnis. Wie ein Zauber sozusagen, nur ohne Zauber. Oder denkst du, du kannst das nicht?“
Daughn schnaufte und stemmte ihre Fäuste in ihre Hüften.
„Doch, sicher kann ich das!“
„Wirklich?“
„Wirklich, wirklich!“
Jan nickte und lächelte verschwörerisch. Er nahm Ailée an der Hand und zu dritt schlichen sie in den Garten, denn es würde ein Geheimnis sein. Rian wartete bereits beim alten Apfelbaum. In den Fingern hielt sie eine kleine Schatulle.
„Da seid ihr jo endlich“, stellte sie fest und winkte sie näher.
„Du hast Ohren wie ein Fuchs, Rian“, kommentierte Jan.
„Gar nicht und ich glaube nicht, dass du das gerade richtig benutzt!“
„Ja. Aber sie hat auch Wangen wie ein Apfel“, hauchte Daughn, denn Rians Ohren waren zwar etwas rot, aber nicht so stark wie der Rest ihres Gesichts. Es war kalt, aber Daughn fühlte sich ganz warm beim Gedanken daran, dass sie ein Opfer für die grosse Gäa machen würden. Zwar nicht richtig zaubern, aber trotzdem!
„Tja, wenn ein gewisser Jan nicht ständig meine Kappe ausleihen müsste, weil er seine verloren hat, dann wäre ich kein Apfel“, sagte Rian dazu und hob die Hand, bevor Jan wieder etwas sagen konnte. „Aber das ist jetzt egal. Damit das hier klappt, müssen wir uns alle gut konzentrieren.“
„Gut kondensieren“, wiederholte Ailée halbwegs richtig und gluckste aufgeregt. Sie versuchte sich Rians Schatulle zu greifen, aber Rian hielt diese hoch über ihren Kopf.
„Setzte euch hin, haltet euch an den Händen und seid ruhig, während ich das Ritual durchführe“, wies Rian an.
Jan setzte sich hin und auch Ailée gehorchte ihr. Daughn zögerte, denn eigentlich fand sie, dass sie das Ritual durchführen sollte und nicht Rian. Sie war schliesslich die mit der Magie. Aber sie wusste nicht, was für ein Ritual Rian sich ausgedacht hatte und eigentlich … eigentlich hatte sie ihren Eltern versprochen, eben nicht zu zaubern. Also setzte auch Daughn sich vor den kahlen Apfelbaum und schaute erwartungsvoll zu ihrer älteren Schwester hinauf.