Daughn blinzelte, einmal, zweimal. Beim dritten Blinzeln konnte sie endlich wieder sehen und hören. Sie war in einem Haus, aber nicht ihrem Zuhause. Sie hatte den Raum noch nie gesehen. Nicht den grossen, dunklen Tisch und den Kamin, nicht die Gemälde an der Wand und die getrockneten Blumen und Kräuter, nicht die Möbelgruppe mit den vielen Kissen und den Sessel mit den Schnörkeln. Sie kannte nichts, nichts ausser Tante Jodorka in diesem Sessel, und nur dank ihr musste Daughn nicht panisch werden. Daughn starrte Tante Jodorka an und Tante Jodorka starrte zurück. Viel zu lange rührte sie sich nicht, bis sie endlich aufsprang und sie in die Arme nahm. Entspannen konnte sich Daughn dennoch nicht. So viel war gerade passiert und sie verstand nichts davon.
„Daughnarin! Kleines. Willkommen, meine Süsse. Ich hatte euch nicht so … so jäh … Wo sind die anderen?“
„I-Ich … ich weiss nicht. Tante Jodorka? Wo bin ich? Mir ist schwindelig. W-Wo sind Tante Jade und Mutter? Sie waren gerade noch da!“
„Oh, sie … sie kommen gleich alle nach“, versprach Tante Jodorka leise. „Setz dich, Portale können auf den Magen schlagen, wenn man sie nicht gewohnt ist. Du bist hier bei mir und Jade zuhause. Dein Vater hat uns einen Brief geschrieben. Er will euch hier zu Besuch zu haben, ist das nicht schön?“
Tante Jodorka drückte sie kurz, hob sie dann hoch und in den Sessel. Auch sie leuchtete so schön, aber dann wurde alles langsam wieder so wie sonst auch und Daughn konnte nicht anders, als auch so wie sie zu lächeln. Jetzt war sie gar nicht mehr verwirrt oder ängstlich.
„Vater? Ist er auch hier?“, fragte sie und schaute sich um.
„Liebe Daughnarin, nein. Nein, leider nicht. Er hat doch zu tun in Liskia. Aber er kann gerne auch herkommen, wenn dann alles … Oh! Was hast du da?“
Sie hielt Daughns Hände und betrachtete diese. Daughns Wollhandschuhe waren rot und rosa gestreift, aber der grosse Flecken darauf war gar nicht rot, sondern dunkel. Daughn wurde etwas übel.
„Ich äh … E-es ist … es ist nicht –!“
Daughn unterdrückte ein Schniefen, aber sie wehrte sich nicht, als Tante Jodorka den Handschuh auszog und den Schnitt an ihrer Hand anschaute. Es war tatsächlich gar nicht so schlimm, wie Daughn es in Erinnerung hatte. Nicht so schlimm, wie es sich erst angefühlt hatte. Es blutete gar nicht mehr und heilte bereits.
„Hm, seltsam“, murmelte Tante Jodorka, erhob sich dann und nahm Daughn an der Schulter. „Komm mit, mein Kind. Lass uns trotzdem etwas Salbe drauf schmieren und dann mache ich dir ein kleines Geschenk, so dass es noch viel besser heilen kann.“
„Danke, Tante Jodorka!“
Daughn freute sich. Sie wusste gar nicht mehr, weswegen es ihr vorhin so schlecht gegangen war. Schon so lange hatte sie die Tanten besuchen wollen! Sie waren Hexen und wussten darum viel über Magie und auch andere Dinge! Daughn verstand nicht, weswegen Vater immer so böse auf die zwei war. Aber jetzt hatte er ihnen einen Brief geschrieben … also mochten sich alle wieder? Das war wunderschön.
Tante Jodorka kümmerte sich um Daughns Hand und gab ihr dann einen kleinen, geschliffenen Stein. In den Stein waren drei geschwungenen Linien und ein Punkt gekratzt. Sie erzählte, dass es sich um einen Rosenquarz handelte, einem Heilstein, der zu Dinia, der Göttin des Lebens, gehörte. Und dann sagte sie, dass Daughn ihn behalten durfte!
Als sie wieder ins Wohnzimmer kamen, stand Tante Jade dort. Sie war nicht alleine, aber … weder Mutter noch Daughns Geschwister waren da. Nur ihr düster aussehender Freund mit der Kutte und der Maske, den Jan und Rian als Dämon bezeichnet hatten. Daughn hatte keine Angst vor ihm. Es gab böse Dämonen, aber es gab auch böse Hexen, aber ihre Tanten waren gut! Dennoch wunderte sie sich. Sie erinnerte sich wieder, wie wütend ihre Mutter gewesen war. Wollte sie nicht auch herkommen?
„Daughn! Du hast dich bereits eingelebt, sehr schön!“, freute sich Tante Jade.
Sie lief zu ihr und richtete als erstes Daughns Frisur, die unter der Wintermütze etwas wuschelig geworden war.
„Hast du mit Mutter geredet? Wo ist sie? Und Rian und Ailée und Jan?“, fragte Daughn.
„Hm, nein. Da hast du etwas falsch verstanden, Kindchen. Nur du bist die nächsten Tage bei uns. Deine Familie bleibt in Lichtrain. Aber das macht dir doch nichts aus, nej? Wir werden viele schöne Spielchen spielen und Lewo wird für uns kochen. Konnten wir dir Lewo überhaupt bereits vorstellen? Wohl nicht, ach! Es gibt so viel zu lernen für dich.“
Daughn war verwirrt. Nur sie? Aber Tante Jodorka hatte –
„Ada. Wir müssen reden“, sagte Tante Jodorka in dem Moment sehr ernst.
„Ts! Jetzt schau nicht so, Dora! … gut. Gut.“
Nun schauten beide Hexen sehr ernst. Tante Jade sagte etwas, aber in einer fremden Sprache. Tante Jodorka antwortete und gemeinsam verliessen sie das Wohnzimmer. Daughn stiess angespannt Luft aus. Jetzt war sie alleine mit diesem Lewo, dessen Gesicht sie gar nicht sehen konnte hinter der Maske. Jan hatte ihnen ab und zu aus den Büchern vorgelesen. Da hatte gestanden, dass nur Leute Masken trugen, die etwas verstecken mussten, von den Göttern und anderen Wesen nicht gesehen werden wollten oder böse Dinge planten. Lewo trug eine schwarze Kutte, aber mit schönen Verzierungen, und er trug auch ein glänzendes Amulett. Das Symbol darauf war ähnlich wie das auf dem Rosenquarz. Aber eben nicht ganz.
„Hallo … Lewo! Ich bin Daughn. Ich habe dich schon einmal gesehen. Du warst an dem Tag da, als ich Mimi verschwindezaubert habe. Aber da hast du … n-nicht viel gesagt. Und Vater war nicht glücklich.“
„Dein Vater ist selten glücklich“, antwortete Lewo.
Daughn zuckte zusammen. Sie hatte irgendwie nicht erwartet, dass er antworten würde. Er wirkte so weit entfernt mit der Maske, aber seine Stimme war warm. Ganz anders, als sie in Erinnerung hatte. Aber auch da hatte sie sich gar nicht gefürchtet!
Lewo setzte sich in den Sessel, zog die lange Kapuze seiner Kutte runter und dann … dann nahm er die Maske doch tatsächlich ab. Als er die Maske losliess, verschwand sie einfach. Daughn hatte das Gefühl, in ein weiteres Geheimnis gezogen zu werden. Zuhause in Lichtrain wohnten keine Dämonen oder überhaupt Zwischenwesen. Daughn hatte sie nur in Büchern gesehen. Einige hatten Ohren und Zähne wie Tiere, andere sahen ganz aus wie Bestien. Lewo aber sah wie ein Mensch aus. Nur seine Haut war dunkler als sie Daughn je bei jemandem gesehen hatte. Seine Augen waren rot, das waren sie bei Menschen nie, aber Tante Jodorka war als Hexe fast ein Mensch und ihre Augen waren violett. Zwei dicke, schwarze Streifen liefen von seinen Augen wie mit Farbe gemalt nach unten über die Wangen bis zum Kinn. Er musterte sie ähnlich neugierig wie sie ihn.
„Du bist ein ähm echter Dämon, ja? Ein äh … ein Drak?“
„Hat dein Vater gar nichts erzählt?“
Daughn schüttelte den Kopf.
„Näin. Er hat gar nichts gesagt. Aber in unserem Sagenbuch heisst es, dass es helle und dunkle Hexen gibt und sie Schimmer und Schemen sammeln. Und manchmal haben sie nicht nur Schemen, sondern auch Dämonen äh … Drak als Freunde.“
„Oder gar Götter“, erwiderte Lewo.
„Weisst du viel über Götter?“
Er lachte leise und liess einen Schemen über seine Hand wandern. Für einen Moment wollte Daughn den Schemen berühren, obwohl die doch gefährlich waren.
„Sagen wir, dass ich schon lange genug durch dieses Weltensystem wandere, um die eine oder andere Gottheit getroffen zu haben.“
Tante Jade betrat das Zimmer wieder. Sie hatte so viel Schwung, dass die Tür knallte. Lewo erhob sich sofort. Er nahm ihre Hand in seine und bot ihr seinen Platz im Sessel an. Tante Jade nahm den Platz an und schlug ein Bein über das andere.
„Wo waren wir stehengeblieben, Kindchen? Hach, ich hatte so viele Dinge geplant und nun bin ich gar nicht vorbereitet. Vielleicht ein kleiner Stadtrundgang, oder wäre das zu viel? Du bist doch noch gar nicht gross rumgekommen sonst, was für eine Schande auch.“
Daughn lächelte ganz stark und massierte den Rosenquarz in ihrer Faust.
„Danke, das ist sehr lieb, Tante Jade. Aber … aber ich will wieder nach Hause zu Mutti und den anderen. Wir sind so schnell gegangen, ich konnte gar nichts packen, nicht meine Zahnbürste und nicht mein Nachtkleid und auch gar nichts sonst … und ich wäre lieber mit ihnen hier, also mit Ailée und Jan und Rian und auch mit Mutti und Ver und Vater natürlich.“
„Ach, Unsinn. Du kannst jeden anderen Tag mit Sterblichen verbringen! Freu dich doch oder interessiert dich dein magisches Erbe gar nicht?“
Tante Jade schnippte mit einem Finger. Viele bunte Kugeln aus Licht tauchten auf, umschwirrten sie und tanzten zu Daughn herüber, um sie zu kitzeln. Daughn lachte ungewollt auf.
„Kannst du mir das beibringen, Tante Jade? Bitte!“
„Wir können es gerne versuchen. Aber nur, wenn du lieb bist, Daughn. Ganz lieb und ohne Beschwerden jetzt, in Ordnung?“
Daughn seufzte und nickte. Ihr Kopf war schwer nach all dieser Aufregung. Sie wollte immer noch nach Hause, aber … aber sie wollte auch mehr von der Magie sehen. Zuhause verstand das niemand.
„In Ordnung.“
„Gutes Kind. Wir werden es schön haben. Du, ich, Lewo und auch Tante Jodorka.“
Sie lächelte und Daughn lächelte auch, diesmal ungezwungen. Sie wollte so gerne mehr Magie sehen. Mehr Zwischenwesen. Und selbst zaubern. Hier erfuhr es niemand und dann, wenn sie zurück zuhause war, dann konnte sie einen noch viel besseren Segen machen.