Kein Licht erreichte ihn, als er tiefer und tiefer im Schlund versank. Er hörte eine Stimme, weit in der Ferne. Zu leise und verzerrt, als dass er sie verstanden hätte. Die Kakophonie des Krieges war zu laut. Sie hämmerte von allen Seiten auf ihn ein, drückte auf seine Rüstung, bis alle Luft aus ihm herausgequetscht war. Feuer züngelte um ihn herum, aber es war düster und kalt. Die Schemen umzingelten ihn und pulsierten. Als er zu schreien versuchte, füllte sich sein Mund mit Wasser.
Weit über ihm tanzte ein einzelner Schimmer. Er streckte seine Hand danach aus. Der Schimmer wirkte unerreichbar. So schwach und doch stärker als er. So klein.
„Es tut mir so leid.“
Trigon erwachte mit einem heiseren Keuchen. Einem Husten. Einem Schluchzen. Vor seinen Augen flimmerten dunkle Punkte, aber die Konturen dahinter waren vertraut. Er war in seinem Zimmer. Ihrem Zimmer. Dem Zimmer, das er sich mit Ankidria teilte. Ankidria …
Die Erinnerung schoss einer magischen Explosion gleich durch seinen Kopf und in alle Ecken seines Körpers. Die Erinner… nein. Eine Lüge. Es war eine Lüge. Nichts davon durfte wahr sein. Ankidria war nicht bei ihm, sie war –!
„Scht, Trigon. Ruhig. Du bist noch schwach“, sprach die Frau.
Trigon starrte sie an, versuchte zu verstehen. Das alles konnte nicht wahr sein.
„J-Jo… Jodorka?“
Die Hexe sass neben ihm auf einem Stuhl. Sie wirkte müde.
„Ich hatte schon geglaubt, dass wir dich auch verlieren. Es war –! Gäa schien dir besonders gut gewillt zu sein, Trigon. Wären wir etwas später angekommen …“
Sie schüttelte den Kopf. Trigon versuchte sich aufzusetzen. Sein eigener Körper verriet ihn. Ein Stechen in seinem Bauch, ein Reissen, ein Brennen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er einen Verband trug. Ein strenger Geruch ging davon aus.
„Ich konnte die Blutung stoppen. Aber es wird trotzdem Zeit brauchen, um zu heilen. Ein übler Schemen klebte an dir. Ohne Lewos Hilfe wärst du … Du solltest ihm später danken.“
Die Worte kamen bei ihm an, aber verarbeiten konnte er sie nicht richtig. Jodorka lehnte sich vor und wischte mit einem kühlen Lappen über seine Stirn.
„Trigon, als wir dich mit dem Messer im Garten gefunden haben, da …“
„Ankidria. Ankidria, s-sie … sie war –!“
Wieder stemmte sich Trigon auf. Er konnte sich nicht aufhalten lassen. Nicht jetzt. Er durfte nicht zurück in die Tiefen des Schlundes fallen. Er musste die Zähne zusammenbeissen, um nicht zu ächzten, als er die Decke zurückschlug und seine Beine aus dem Bett hievte. Seine Füsse hielten sein eigenes Gewicht beinahe nicht aus. Die Hexe sprang auf und an seine Seite. Sie sprach seinen Namen und zerrte an ihm. Trigon wankte zum grossen Schrank und zog sich das erstbeste dicke Wollhemd und eine Hose an. Ihm wurde schwindelig, als er in seine einfachen Schuhe schlüpfte. Dennoch machte er weiter.
„Trigon, ich bitte dich …“
Er strauchelte aus dem Zimmer hinaus und den Gang entlang. Er fand seine Jacke und stülpte sie sich über. Er hatte den Winter nicht aufhalten können. Auf einmal stand er im Wohnzimmer. Das Wohnzimmer war leer. Leer und aufgeräumt, als hätte niemals jemand hier gelebt. Als wäre nie jemand –! Die eine Kerze war noch da. Sie war gänzlich heruntergebrannt. Nur kalter Wachs war übrig. Der Morgen, der nie hätte kommen dürfen, schien fahl durch die Fenster herein. Schnee fiel lautlos, unschuldig vom Himmel.
Trigon taumelte durch die Küche und in den Hof hinaus. Es war so kalt. Sein Körper schrie, gleichzeitig aber fühlte er sich taub an. Da war die Scheune. So viel Zerstörung. Nur noch Asche. Der Himmel hatte geweint in der Nacht. Es war trüb und die hellen Flocken tanzten schamlos über die vom Russ geschwärzten, blossgelegten Balken.
Er erreichte den Garten. Der Apfelbaum war kahl. Unter dem Apfelbaum … Vor seinen Wurzeln. Da hatte er sie gesehen. Trigon kam davor zu stehen. Da unter dem Apfelbaum lag die Erde kahl und frische Magie glomm tief aus ihr heraus. Es war das sanfte Singen von Bergkristallen, die wilde Magie fangen und halten sollten. Das Summen eines einzelnen, starken Edelsteins. Etwas Rutilquarz oder vielleicht sogar ein Triphan, umschlossen von einer ganz speziellen Goldmünze. Da unter dem Apfelbaum befand sich ein Grab.
„N-Nein … nein.“
Trigons Körper war wie Eis. Es splitterte, liess ihn vor die Wurzeln des Apfelbaumes fallen. Seine Fingerspitzen streiften die raue, nasse Rinde. Seine Nägel bohrten sich zwischen die Wurzeln, gruben und rissen Erde weg. Fanden Spielzeug, das seinen Kindern gehörte.
„Es tut mir so leid.“
Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, zuckte zusammen und konnte seine spontane Panik nur äusserlich im Zaun halten. Die Hexe. Sie war immer noch da. Die Schneeflocken klebten in ihrem dunklen Haar und liessen ihre Wangen feucht aussehen.
„Wir konnten ihre Seelen nicht wandern lassen. Wir mussten ihre Körper irgendwo vergraben.“
Trigon schüttelte den Kopf. Er konnte es nicht wahr haben.
Seine Familie lag unter diesem Apfelbaum.
„Trigon, bitte komm zurück ins Haus“, bat Jodorka, als er sich am Stamm auf die Füsse riss.
„Was h-habt ihr getan! Ich … i-ich wollte dir vertrauen!“, rief Trigon.
Seine Stimme wirkte weit entfernt. Alles war falsch. Alles war nichtig.
„Es tut mir –! Es tut uns leid! Glaub mir“, behauptete die Hexe.
Trigon schaute auf das unmarkierte Grab. Schaute auf seine Hände.
Seine Familie war tot.
„Sie sind fort. S-Sie hätten weit … f-fort sein müssen! Ihr hättet sie … f-f-fort bri-br… Ich sollte b-bei ihnen sein. Ich sollte bei ihnen sein.“
Sein Kopf war leer. Sein Herz schlug nicht mehr. Seine Seele war fern.
Seine Füsse rissen ihn weiter.
„Trigon!“, rief ihm die Hexe nach.
Er rannte. Er brach zusammen, war ein zitternder Haufen. Er schleppte sich weiter, erklomm den Weg hoch zum Schrein. Er konnte nicht mehr. Tränen mischten sich mit kalten Schnee, Wasser lief ihm aus der Nase und gefror an seinem Kinn. Säure pumpte hoch, als er sich an jedes Gräuel des letzten Tages erinnerte. Er würgte, weinte, wollte nicht mehr existieren.
Irgendwann … irgendwann war er dort. Der Schrein war verlassen, war so tot wie alles an diesem Morgen. Kein Licht brannte, dabei brannte sonst immer ein Licht im Schrein. Wie konnte seine Familie ohne ein Licht ihren Weg finden?
Trigon versuchte selbst ein Licht zu erzeugen, doch es misslang ihm. Er blieb vor der weissen Marmortafel liegen, die den Segen Gäas verkündete. Sie war die Allmächtige. Wieso also konnte sie seine Familie nicht retten? Wieso hatte sie ihn nicht erhört? Wieso nicht nur dieses eine Mal?
Er wusste nicht, wie viel und ob überhaupt Zeit verging. Immer wieder hatte er die gleichen Gedanken. Hatte die gleichen Bilder vor Augen. Er flehte die hohe Göttin an. Wünschte, dass sie ihn wenigstens mit ihnen nahm. Die Schemen einem Schimmer weichen liess.
Etwas legte sich über ihn und wieder wurde alles in ihm taub. Nicht vor Kälte jedoch. Die Schimmer waren da und Trigon liess sie in sich hinein. Sie nahmen ihn nicht hinfort. Sie holten ihn zurück in die grausige, wüste Welt.
„Glaub mir, Trigon. Wenn Jade und ich gewusst hätten, was geschehen wird, dann hätte sie nie … Ich hätte nicht –! … nichts, das ich sagen kann, wird irgendwas ändern können.“
Einmal mehr war Jodorka bei ihm. Die Schimmer kamen von ihr, obwohl sie eine Schemenhexe war. Sie nutzte ihre Magie, um seinen Körper vor dem Bersten zu schützen. Sie konnte die Wunde an seinem Körper heilen, aber sie konnte nicht das Geschehene rückgängig machen.
Sie waren tot.
„Es war schlimm, aber … ein kleines Licht war noch übrig. Du wirst wieder gesund.“
Lange starrte Trigon seine Tante an, starrte an ihr vorbei zur Decke des Schreins. Was blieb ihm denn jetzt noch?
„Wann … W-Wie habt ihr mich gefunden?“
Jodorka seufzte.
„Daughnarin. Sie war mit bei uns, als es geschah. Es war, als hätte sie es gespürt. Als hätte sie es gesehen. Sie hat so grässlich schlimm weinen müssen. Wir baten Lewo, für uns nachzuschauen und dann … kamen wir her und, u-und fanden dich und alles andere.“
Trigon blinzelte.
„Daughn?“
„Jo, Daughn. Sie ist –! … Daughn! Mein lieber Schatz, komm bitte zum Schrein!“
Trigon starrte zu dem weissen Marmor hoch, versuchte zu verarbeiten. Sein Körper war eine Puppe, gefüllt mit gläsernen Scherben statt Wolle. Er zwang die Puppe dazu, sich aufzusetzen. Jodorka half ihm, lehnte ihn an die Seitenwand des Schreins.
Da war sie auf einmal, stand draussen im Schnee mit roten Wangen und wirkte doch so bleich. Auch sie starrte, starrte ihn an. Dann schluchzte sie auf und fiel ihm um den Hals. Ihre Körper drückte gegen seine Verletzung, durchstiess ihn mit heissem Schmerz und erinnerte ihn daran, dass er noch lebte. Dass sie lebte.
Daughn lebte.
„Vati, ich h-hab mir so Sorgen gemacht! Die Scheune ist kaputt, Vati! W-Wo sollen jetzt denn die … Pf-Pferde hin?!“, schniefte seine Tochter.
Trigon konnte es nicht glauben, aber er musste es akzeptieren. Er musste für sein Kind da sein. Er schloss sie in seine Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, das seinem so ähnlich war.
„Daughn. Daughn … E-Es ist in Ordnung.“
Nichts war in Ordnung. Aber Daughn lebte.
Trigon drückte Daughn so fest er konnte, mit all der Schwäche, die er noch aufbringen konnte. Er blickte auf Gäas Symbol auf dem Marmor, auf die goldene Farbe, die die Gravur füllte und glänzen liessen.
Was blieb ihm jetzt noch?