Der Frühherbst war schnell vergangen. Die Hexe hatte sich nicht noch einmal nach Darkeen getraut und es waren auch keine Meldungen mehr über wilde Schemen und andere gefährliche Vorkommnisse bei ihnen eingegangen. Ein Tag war wie der andere gewesen, nur von kleinen Freundlichkeiten und den gelegentlichen Stürmen unterbrochen. Bis in den Spätherbst hinein, der mit einer unerwarteten Wärmewelle startete.
Trigon sass mit einem Buch über Darkeens alte Legenden im grossen Garten zwischen der Burg und der Kaserne. Gerade noch war es ruhig gewesen. Nun aber rannten die jüngeren drei Kinder der Schwarzen Königin über die Wiesen und auch quer über die Blumenbeete und kicherten und quietschten dabei laut. Die beiden Jungen waren Zwillinge. Trigon schaute den Kindern so lange zu, bis ihre Zofe sie einholte und eilig zurück auf den Kiesweg zog. Er dachte an seine eigenen Kinder. Es war nicht unüblich, dass adelige Kinder wenig Zeit mit ihren Eltern verbrachten. Und doch freute sich Trigon auf die nächsten drei Wochen vor dem jährlichen Erntefest im Lichttal, in denen er jeden Tag Ankidria als Hilfe im Dorf sein und seinen eigenen Kindern beim Lachen und Aufwachsen zusehen würde.
„Herr Ritter Trigon!“, rief ihm die feste Stimme des Oberbefehlshabers zu und sofort erhob sich Trigon. Alexander näherte sich mit schnellen Schritten und sah … angespannter als sonst aus. Trigons Freude schwand und an ihrer Stelle kam schwere Sorge in ihm auf.
„Herr Oberbefehlshaber Alexander“, grüsste Trigon mit der Hand am Herz.
Alexander musterte ihn, schaute dann zu seinen beiden Neffen und seiner Nichte und Trigon bemerkte eine ungewohnte Unsicherheit in den grauen Augen seines Vorgesetzten.
„Herr O-Oberbefehlshaber?“
„Hm. Ja. Entschuldige.“
Alexander riss seinen Blick los und schüttelte den Kopf, griff Trigon dann am Arm und setzte sich mit ihm zurück auf die Bank.
„Ich muss kurz mit dir reden, Trigon. Ich weiss, du hast Pläne und wolltest heute schon wieder zurück nach Lichtrain. Ich habe nicht vor, dich aufzuhalten. Aber ich werde dir wahrscheinlich eine Aufgabe mitgeben müssen.“
„W-Wie kann ich E-Euch … zu Diensten sein?“, fragte Trigon und klang leise, obwohl er standhaft wirken wollte. Alexander hielt noch immer seinen Arm, erwartungsvoll und vielleicht auch beinahe freundschaftlich. Trigon getraute dennoch nicht, seinen Vorgesetzten anzuschauen und starrte stattdessen auf seine eigenen Hände hinunter. Da flogen sie davon, die drei Wochen bis zum Erntefest.
„Mit dem späten Herbst kamen Unruhen auf“, erklärte Alexander nach einigen Momenten genauer. „Jeskas Grosser Rat wurde von einem Alleinherrscher übernommen. Seine Identität ist noch unbekannt, seine Ziele aber sind sehr eindeutig. Er baut sich ein Heer auf und hat bereits die ganze südliche Küste inklusive der Inseln annektiert. Wer ihm nicht die Treue schwört, wird mit Blut bezahlen.“
„… g-gibt es schon Rückmeldungen der umliegenden Länder?“, ächzte Trigon.
„Der Kupferkönig hat ihm wohl direkt seine Kooperation angeboten und damit auf sein Bündnis mit den anderen Königshäusern gespuckt. Klassischer Windbeutel. Das bringt das Problem leider bereits an unsere Grenze. Westland wird es als Gelegenheit ansehen und … Wir werden erst abwarten müssen, was das Goldene Reich dazu zu sagen hat.“
Alexander strich nachdenklich seinen dunklen Kinnbart zurecht. Trigon blickte zum Himmel hinauf und versuchte, sich die möglichen Konsequenzen dieses neuen Machtverhältnisses nicht vor Augen zu führen. Aber es war zu spät. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass gerade Jeska ewig weit entfernt sei. Man durfte den Süden Gahlarias nicht unterschätzen, da er eine hohe Bevölkerungsdichte besass, mit vielen Dämonen darunter, und die Vorherrschaft über den Seehandel inne hatte. Da er politisch aber sehr zersplittert war und von vielen regionalen Häusern geleitet wurde, die sich für wichtigere Entscheidungen immer erst im Grossen Rat hatten treffen müssen, war es bisher einfach gewesen für das Goldene Reich, Frieden auf dem Kontinent zu bewahren. Wenn sich nun aber der Süden unter einem Alleinherrscher vereinte und dieser ein Heer aufstellte … Trigon war bereits in verschiedene Gefechte verwickelt gewesen. Aber Krieg?
„He-He… Alexander? Ihr habt n-nicht …! Was wäre denn nun m-meine Aufgabe?“
Der Oberbefehlshaber schaute ihn an, als wäre er überrascht. Als hätte seine Erzählung auch ihn überrumpelt und ihm Bilder in den Kopf gepflanzt, von denen er kaum weg kam. Er biss sich auf die Unterlippe, klopfte Trigon dann einmal auf den Arm.
„Wie gesagt. Dieser Heerführer scheint grosse Ziele zu haben und es würde mich nicht verwundern, wenn er mehr als einen einmal mehr geeinten Süden beherrschen will. Ich gebe dir darum die Erlaubnis, passende Bücher mit nach Lichtrain zu nehmen und werde dir einen persönlichen Kundschafter zur Verfügung stellen. Je eher wir wissen, mit was wir es zu tun haben, umso besser können wir uns darauf einstellen.“
„Ich werde in der Nähe sein“, versprach Trigon und atmete tief durch. „Haltet Ihr den … He-Heerführer für … eine Dreylle?“
Alexander schwieg so lange, dass Trigon sich beinahe verpflichtet fühlte, das Wort zu erklären, dabei wusste Alexander natürlich, dass damit die besonders mächtigen Synten gemeint waren. Sie waren der Urmagie so nahe, dass selbst die Zeit ihren Gesichtern nichts anzuhaben schien. Es gab nicht viele Zeitlose. Aber die Kräfte einiger konnten selbst in der Einzahl fatal für viele sein.
„Das ist noch unklar“, antwortete Alexander endlich. „Aber er könnte sehr gut eine Dreylle sein. Jeskas Grosser Rat ist gut gesichert und viele seiner Mitglieder sind selbst mächtig. Gerade sind die Gerüchte noch sehr wild und auch widersprüchlich. Angeblich kann der Mann nur mit Blicken ganze Dörfer in die Knie zwingen. Das ist eine Art von Magie, von der ich selbst im Zusammenhang mit den Zeitlosen nie gehört habe. Bleibe also bitte wachsam, aber auch diskret.“
Trigon nickte fahrig. Um ihn herum wirkte alles auf einmal so düster.
„Ich w-werde mich … gut vorbereiten.“
„Dann sind wir uns einig. Gute Reise.“
Alexander nickte ihm zu, dann erhob er sich und lief rasch in Richtung der Burg davon. Auch die Kinder befanden sich nicht mehr im Garten. Liskia war auf einmal so leise.
Auf dem Weg zu den Stallungen begegnete ihm Jeanne. Trigon wollte lächeln, aber sein Gesicht war eingefroren und auch sie lächelte nicht.
„J-J-Jeanne! … Jeanne. Der S-S-Sü–“
Er konnte nicht weitersprechen.
„Ich weiss“, sagte Jeanne und sie klang auf einmal so ernst. „Ich weiss, was passiert ist. Aber noch solltest du nicht vom Schlimmsten ausgehen.“
Jeanne hatte recht. Wenn sie Schwäche zeigten, fiel das System auseinander. Dann hätten sie schon verloren. Sie waren schliesslich Vorbilder. Und doch fühlte Trigon sich schwer.
„Weisst du noch, als wir dachten, der Windbeutel würde Na’Rin den Krieg erklären, dabei hatte er nur eine sehr ungeschickte Kritik über ein Theaterstück geschrieben?“
Jeanne lachte, doch ihr Lachen war von einem Schnaufen begleitet.
„Wir müssen immer gewappnet sein. Dinge können ständig geschehen. Aber wir dürfen nicht bereits im Voraus Panik kriegen. Geh heim und gönn dir eine Pause.“
„V-Vielleicht sollte ich mich für die … nächste Versammlung in Aurena melden“, überlegte Trigon laut. Er war nur einmal an einer Versammlung im Herzen des Goldenen Reiches gewesen. Noch vor der Geburt der Zwillinge. Doch er wollte helfen und diese Situation schnell aufklären. Das mögliche Grauen abwenden und als Lüge enttarnen. Selbst die Dreyllen, egal ob dunkel oder hell, konnten ihren Willen nicht ganzen Dörfern aufzwingen. So etwas war unmöglich. Der Bote hatte sich ein Gerücht als Wahrheit aufbinden lassen.
„Lass es lieber sein, Trigon“, riet Jeanne ihm ab. „Du tust schon so viel. Alexanders Stieftochter arbeitet seit zwei Jahren darauf hin, als Vermittlerin in internationalen Angelegenheiten eingesetzt zu werden. Sie wird das gut machen und du wirst gar nicht merken, wie schnell sich das alles auf einmal geregelt haben wird.“
Trigon wollte widersprechen. Aber er wollte nicht pessimistisch sein.
„Das … stimmt. Noch haben wir Zeit.“
„Ne, ne! Zeit hat nur die Ewigkeit! Also mach dich endlich auf den Weg und grüss deine schöne Frau und Ver von mir!“
Jeanne zwinkerte ihm zu und Trigon zog eine Grimasse. Inzwischen war er ihr nicht mehr böse. Nur leider wirkten die Frühlingsspiele auf einmal so weit in die Ferne gerückt.
„Dir unterdessen viel F-Freude im Norden. … pass gut auf dich auf, Jeanne.“
„Das werde ich. Ich werde deinem Vater erzählen, dass du ihm deine Grüsse schickst.“
„Oh … richtig. Das wäre nett von dir.“
Diesmal war Jeanne die, die eine Grimasse zog. Dann aber drückte sie ihn und Trigon erwiderte die Umarmung. Es war nur ein Gerücht, sonst nichts.