Es war der fünfzehnte Tag des Frühwinters. Im Goldenen Reich herrschte der Krieg. Vor neun Tagen hatte es begonnen. Mitten im Herzen des Reiches, in Aurena. Die Burg selbst sei von der Magie verschlungen worden, die der Heerführer mit sich gebracht hatte. Weg, einfach weg. Während der Versammlung. Fort. Das Herz des Goldenen Reiches war fort und die umliegenden Regionen kämpften seither um ihr Überleben.
Die Nachricht hatte sich schnell verbreitet. Die Schwarze Königin hatte anstelle menschlicher Boten die Harpyien des Sirrings damit beauftragt, die Kunde an ihre wichtigsten Untergebenen zu überliefern. Seit zwei Tagen wusste Trigon es und doch war er nicht vorwärts gekommen. Es eilte, doch für ihn schien die Zeit stillzustehen.
Er war oft in Liskia gewesen und hatte in der Bibliothek geforscht, hatte auch jene in Nava und Larne sowie alle Tempel besucht. Das Erntefest hatte er verpasst, der in der Woche darauf folgende Yarrstag war umso bedrückender gewesen. Ankidria sagte nicht viel, aber vielleicht hatte sie Alexander tatsächlich einen verärgerten Brief geschrieben. Vielleicht war ihm aber auch Trigons müdes Gesicht aufgefallen. Möglicherweise hatte Ugos ihm von Trigons anhaltenden Kopfschmerzen nach den intensiven Übungsstunden neuer Zauber berichtet. Trotz der Meldung vor zwei Tagen hatte der Oberbefehlshaber Trigon zurück nach Lichtrain gelassen und hier war Trigon nun und konnte sich dennoch nicht besser fühlen.
„Vati! Vati!! Du musst uns ernsthaft noch einmal den Münzzauber zeigen!“, rief Rian, als sie in sein Arbeitszimmer gestürzt kam. Ihr dicht auf folgte Jan, Ailée rannte kreischend hinterher und selbst Daughn lief schwunghaft ins Zimmer.
„Oder sonst einen schicken Zauber! Daughn behauptet, dass sie weiss, wohin du die Münzen verschwinden lässt, aber das ist unmöglich! Du bist schliesslich nicht nur ein föriger Zauberer und Trickmacher! Du machst richtig echte Magie!“, brabbelte Jan.
„Nichts ist unmöglich! Nur unsere Vorstellung hat Grenzen!“, zitierte Daughn eine Weisheit, die sie klar von Yarin übernommen hatte.
Ailée kreischte noch einmal und wedelte mit einer Aure herum, welche die Kinder wohl von Ver geliehen hatten. Oder ungefragt entwendet. Die Zwillinge testeten jegliche Grenzen aus, die sie fanden. Nicht nur die der Vorstellung.
Trigon konnte den Blick nur langsam von dem Buch über alte Rituale und Schutzzauber losreissen. Die Kinder hatten noch nichts von der Katastrophe mitgekriegt. Er zumindest hatte sich alle Mühe gegeben, sie von dem Grauen zu verschonen. Er wollte sie nicht ängstigen und ihnen den Schlaf rauben. Gleichzeitig kosteten ihn solche Bitten Reserven, die schon beinahe ausgeschöpft waren. Der Anblick der goldenen Münze stach in seinen Augen.
„Bitte, Kinder. Jetzt nicht. Ihr seht doch, dass ich am Arbeiten bin.“
„Aber das geht doch gar nicht so lange! Nur die eine Aure!“, bettelte Rian.
„Es ist wichtig! Nur die Münze!“, bettelte auch Jan.
„Später vielleicht … Ich habe sehr viel zu tun“, erklärte Trigon.
„Du hast immer viel zu tun!“, beschwerte sich Jan sofort.
„Ach, ist nicht schlimm. Wir machen etwas anderes und fragen später noch einmal“, lenkte wenigstens Rian ein. Daughn sagte nichts, musterte ihn stattdessen mit tief gerunzelter Stirn und Ailée wedelte weiterhin mit der Münze und tat es auch noch, als ihre grosse Schwester sie am Arm nahm und hinausführte.
„Vati …“, jammerte Jan.
Trigon wollte ihn nicht enttäuschen. Aber schon jetzt bahnten sich die Kopfschmerzen an und er fühlte sich auch gar nicht in der Lage, Magie anzuwenden. Die Lesebrille drückte auf seiner Nase und die Gedanken an das Kommende drückten noch mehr.
„Du weisst doch, dass ein Ritter viel Verantwortung hat, Jan. Magie ist kein Spiel.“
„Hmmmpf!“
Er wirkte nicht überzeugt, folgte seinen Schwestern aber aus dem Zimmer. Daughn schien ebenfalls etwas sagen zu wollen und presste ihre Lippen zusammen, wünschte Trigon dann aber nur viel Freude mit dem Buch.
Trigon versuchte sich wieder auf den Text zu konzentrieren, aber es war ihm keine Freude und selbst mit der Brille schienen die ruiliken Worte vor ihm zu verschwimmen und keinen Sinn zu ergeben. Er versuchte es noch eine Weile, dann gab er auf und verliess das Zimmer. Er benötigte frische Luft in seinem Körper. Irgendjemanden, der ihm seine Sorgen abnehmen konnte. Im grossen Wohnzimmer sassen Ver und Ankidria bei einer Partie Farbschach. Als Trigon an ihnen vorbeiging und ein Fenster in den Hof öffnete, schauten beide auf. Er hatte Ankidria doch versprochen, dass sie sich nicht mehr sorgen müsste …
„Also Jan scheint recht sauer auf dich zu sein“, sagte Ankidria.
„Ich weiss“, seufzte Trigon mit schwerem Herzen. „Aber er … Sie werden alle älter und müssen verstehen, dass sie nicht immer das Zentrum der Aufmerksamkeit sein können. Sie müssen auch lernen, leise zu sein. W-Wenn der Krieg –!“
Nein. Eigentlich wollte er nicht über das nachdenken. Er wollte nicht wissen, was wäre, wenn auch Darkeen angegriffen würde. So weit würde es nicht kommen. Er würde vorher einen Ausweg finden. Leider wussten sie noch immer nicht, wer oder was der Heerführer war und woher er diese angeblich so starken Kräfte nahm. Er musste eine Dreylle sein. Ein mächtiger Dämon. Die Lithan und selbst die neutralen Synten hätten nie gewagt, während einer friedlichen Konferenz anzugreifen. Nur ein Mann mit Zugang zu der dunkelsten aller Schemen konnte eine ganze Burg mitsamt der Gäste und Kinder dem Yarr als Geschenk übergeben. Aber immer noch hatte keiner genau Informationen zum Heerführer selbst zu ihnen bringen können. Niemand war ihm nahe genug gekommen und hatte überlebt.
„Ach, Trigon“, murmelte Ankidria.
Auf einmal schallte mehrstimmiges Schreien über den Hof und gefühlt auch durch alle Gebäude. Sofort war Trigon an der Tür und auch Ankidria und Ver unterbrachen ihr Spiel und waren gleich bei ihm, rannten nach ihm hinaus und über den Hof. Trigon befürchtete schon das Schlimmste! Aber die Kinder waren unversehrt. Noch immer kreischte die kleine Ailée und die Zwillinge redeten wild durcheinander. Doch sie waren unverletzt. Daughn schüttelte wild den Kopf, als die Erwachsenen zu ihnen stiessen.
„Was ist passiert?!“, rief Ankidria voller Schrecken.
„Daughn hat gezaubert! Sie hat den Münzzauber gemacht!“, schrien die Zwillinge.
„Was?!“, ächzte Trigon, denn mehr brachte er nicht hinaus.
„Näi, seid ihr irre, so zu schreien?! Ich dachte, jemand hätte sich verletzt!“, blaffte Ver.
„Aber sie hat die Münze weggemacht!“, schrie Jan weiter.
„… sie hat was gemacht?“, fragte Ankidria etwas gezielter und doch völlig ausser sich.
Langsam beruhigten sich die Kinder, doch Trigon begann zu zittern. Er hatte sich doch bestimmt verhört? Die Zwillinge spielten ihnen einen schlimmen Streich?!
„Los, zeig es ihnen, Daughn!“, forderte Rian.
In den Armen hielt sie die arme, alte Mimi, die trotz des Lärms nur leise miaute und auch keinen Fluchtversuch startete, als sie Daughn überreicht wurde.
„Näiiin! Nicht Mimi!“, kreischte Ailée, aber Jan hielt sie zurück.
„Kinder, das ist wirklich nicht …“, begann Ver, verstummte aber, als Daughn mit einer unerwarteten Ruhe die Augen schloss und wenige Worte, nur so wenige Worte des Zaubers nachsprach, für den Trigon damals so lange benötigt hatte. Dessen lange Formel er nur nach vielen Anwendungen meistern und abkürzen hatte können. Sie sprach lediglich ein paar Worte eines Zauberspruchs, dessen Bedeutung sie doch gar nicht verstehen konnte. Einer Magie, die sie nicht kennen und besitzen durfte. Sie sagte die Worte und die Katze war weg. Fort.
„Seht ihr?! Seht ihr das!?“, rief Jan hysterisch.
„Sie kann zaubern! Wir können das nicht, aber Daughn schon!“, stimmte Rian ein.
„Mimi! Mimi! Komm wieder, Miiimiii!“, schniefte Ailée.
„Oh, Daughn. Daughn! Wann … Wie?!“, verstand Ankidria das nicht.
Ver lachte, aber sein Lachen hatte etwas Verzweifeltes.
Trigon sah, wie das Mädchen direkt ihn anschaute und er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Sie hatte seine Magie geerbt. Daughn hatte nicht nur sein Aussehen, nicht nur die graue Strähnen im Haar, sondern auch seine Magie erhalten und das ausgerechnet in einer Zeit, in der ein Heerführer mit seiner Magie ein Blutbad anrichtete.
Daughn hatte kurz gelächelt, doch das Lächeln war schnell verschwunden und nun rollten ihr dicke Tränen die runden Wangen hinunter.
„Warum seid ihr alle wütend? Ich h-habe das doch gut gemacht!“, schniefte sie.
„Nein, Daughn! D-Du verstehst das nicht, d-d-du …!“
Trigon wollte nicht laut werden. Er wollte seine Tochter nicht anschreien. Aber das letzte Stück Kontrolle war seinen Fingern auf einmal entrissen und schon spürte er, wie ein anderer, viel stärkerer Zauber und eine düstere Präsenz sich auf den Hof drängten.
„Eine gute Frage“, sagte Jade und Trigon wusste nicht, wie viel sie von all dem mitgekriegt hatte, aber er wünschte, sie wäre nicht da. Er wünschte, niemand sei hier. Dass alles nur ein Trugbild war. Ein Spiegel seiner Ängste. Aber Jade war hier, gemeinsam mit ihrer Schwester, die das genau gleiche Gift in sich trug.
„Ihr solltet euch freuen! Stattdessen bringt ihr die Arme zum Weinen!“, tadelte Jade.
„Tante Jade! Tante Jodorka!“, rief Daughn und eilte zu den beiden, bevor Ver nach ihr greifen konnte. Jade nahm sie nur kurz den Arm, ehe sie Daughn ihrer Schwester überreichte, und Trigons Seele schmerzte. Er wollte seine Tochter nicht bei den Hexen sehen. Nicht dort. Wieso besass Daughn Magie? Wenn die Leute davon erfuhren …