Es dauerte länger als die halbe Stunde. Die Glocken des Ostturms und des Tempels läuteten und verstummten wieder. Trigons Muskeln begannen zu schmerzen und sein Kopf wanderte, aber er getraute sich nicht, irgendwo abzusitzen. Er musste doch stark und vorbildhaft wirken. Irgendwann erschien der Oberbefehlshaber tatsächlich und nicht nur Ugos, sondern auch der Kronprinz war an seiner Seite.
„Ihr könnt wohl beide kaum erwarten, wieder aktiv in den Dienst zu treten!“, nahm dieser sie als erster der drei Männer zu Kenntnis. Siron Lenard Cabell war seit fast zwei Jahren ausgelernter Ritter und stand Alexander fleissig zur Seite. Er schüttelte erst Jeanne und dann Trigon die Hände. Ugos umarmte sie beide. Alexander nickte nur knapp.
„Ach, die anderen wirkten alle ebenso gespannt. Ich bin nur unhöflich“, winkte Jeanne ab.
„Stimmt … wir sind spät dran. Ich werde euch natürlich nicht länger warten lassen“, sagte Alexander. Er lief gleich weiter und etwa acht Personen, teilweise gewollt und teilweise unerwünscht, eilten ihm hinterher. Trigon wusste nicht, ob er ebenfalls folgen oder lieber auf den Prinzen und Ugos warten sollte. Jeanne schien es auf einmal gar nicht mehr eilig zu haben und die restlichen Menschen im Hof starrten alle, warteten auf einen Fehler.
„Meine Mutter war sehr froh um die bisherigen Mühen, die Ihr euch gemacht habt, Herr Trigon“, nahm Siron ihm die Entscheidung ab, als er sich ebenfalls in Bewegung setzte, nur viel gemütlicher als sein Oheim. „Unsere Mauern sind stark und Eure Nachforschungen haben die Tempel des Landes näher gebracht.“
„Die Sitzung war leider dennoch voll mit äusserst aufgebrachten Gemütern, sobald es um die Zusammenarbeit mit dem dämonischen Familien des Sirrings ging“, fügte Ugos an.
„Kein Wunder, dass Alexander so neben sich ist“, murmelte Jeanne.
„Ach, nein. So ist er schon die ganze Zeit, seit mit Au… Hmpf.“
Siron schüttelte den Kopf und liess kurz etwas Ernsthaftigkeit hinter seiner heiteren Fassade durchscheinen. Trigon erinnerte sich. Alexanders Stieftochter war Darkeens Repräsentantin gewesen. Wie hatte ihr Name gelautet? Wise. Sie war Alexanders Tochter gewesen. Trigon konnte sich nicht vorstellen, was er getan hätte, wenn –
„Wie konntet Ihr eigentlich bestimmen, dass der Hexer Zoyarr folgt?“, fragte Siron.
Jeanne berührte Trigons Arm. Trigon wich ihr wieder aus, denn er konnte jetzt nicht die Wahrheit sagen. Auch wenn einige wussten, dass eine Hexe ihn geboren hatte, so wusste keiner, welche es gewesen war. Er wollte sie nicht wissen lassen, wie berüchtigt Jade war, dass sie erst letzthin mit einem der Schemenwächter in Lichtrain gestanden hatte. Nicht solange ein Hexer ihr Feind war. Nicht nachdem seine eigene Tochter Magie verwendet hatte.
„N-Nun hm … Hexen können sich b-beliebiger Schemen bedienen. Es heisst jedoch, d-dass bestimmte, besonders talentierte Hexen … den Weg einer Sterblichen verlassen, s-sich direkt mit den ältesten Kindern des Y-Yarrs und … dessen Wächtern v-verbünden können. Das erklärt, w-weswegen der Mann wie ein Mensch w-wirkt, a-aber –! In einigen a-alten Geschichten wird erzählt, dass Zoyarrs W-Wächter besonders überzeugt seine Botschaften … in die Welten sendete. Er ist den Kriegsgöttinnen ähnlich. Und Zoyarr selbst w-wird auch der unersättliche Schlund genannt.“
„Die Dame Ira van Niderborgen hat mir und Alexander das letzthin ähnlich erklärt – Und sie ist schliesslich als Schemenhexe eine Expertin“, fügte Ugos an.
„Yarrs Schlund ist es, dem Aurena zum Opfer fiel“, murmelte Siron. „Wieso nochmal trauen wir bei solch einem Gegner einer hohen Hexe mit düsteren Meistern?“
Jeanne feixte bei ihrer Erwähnung und Trigon schaute zur Seite.
„Siron, mein Prinz!“, erboste sich Ugos. „Ihr wisst doch, der Ton der Seele allein sagt nichts aus über deren Moral. Gundra und ein grosser Teil des Goldenen Reiches verschmähten vor fünfhundert Jahren viele der Dämonen und trieben sie in alle Ecken Gahlarias, auch hierhin ins schwarze Hügelland. Eure Aufgabe als zukünftiger König ist, über sie zu wachen, aber auch mit ihnen zu leben. Mit Hexen ist es wie mit allen Lebewesen und selbst den Gottheiten. Es gibt verschiedene und was sie tun ist auch verschieden. Ira ist eine Schemenhexe, aber sie ist auch eine hochadelige Darke und war uns immer treu. Ausserdem braucht es manchmal eine dem Feind ähnliche Quelle, um eben jenen Feind zu verstehen.“
„Wenn sie nicht gerade unseren Rittern Flüche anhängt, dann wohl“, schnaufte Siron, woraufhin der Mentor laut schnaufte und ihm einen Klaps gab.
Trigon konnte sie beide verstehen. Es war falsch, die Hälfte eines Spektrums an Wesen zu verurteilen, nur weil sie düster auf die Welt gekommen waren. Aber es gab Dämonen, die würden immer gefährlich sein. Dämonen, die wahre Monster waren. Konnten sie den Drakar in ihrem Land noch trauen, wenn der Schlund kam und ihre Seelen vergiftete? Konnte man ihm trauen? Seiner Magie, die doch von einer Schemenhexe als ihres bezeichnet wurde?!
„Wie auch immer!“, sprach Ugos und raufte seine Ärmel. „Ich werde Alexander nichts vorweg nehmen, wenn ich euch auf dem Rest des Weges bereits ein paar Dinge erzähle. Trigon, du wirst in der Stadt bleiben und dich vollkommen auf das Üben deiner besten Zauber konzentrieren! Jeanne, mein Kind, du hingegen wirst versuchen, besseren Kontakt mit dem guten Teil des Westens zu schaffen.“
„Das klingt passend“, fiel Jeanne auf.
Nun schauten alle zu ihm. Trigon wurde gleichzeitig kalt und heiss und er sah kleine Schatten in seinen Augenwinkeln zucken.
„I-I-Ich … Ich kenne einen W-Weg … den He-H-Heerführer v-vielleicht zu entkräften.“
Auf Ugos’ altes und Sirons junges Gesicht trat ein zufriedenes Lächeln und Trigon versuchte nicht darüber nachzudenken.
„Besser so. Etwas anderes hätte mich hart enttäuscht“, gestand der Kronprinz.
„Auf dich kann man sich eben verlassen“, glaubte der Mentor.
Der Weg zur Kaserne war kurz und schon auf der Strasse konnten sie, wo es zuvor still gewesen war, auf einmal wütende Stimmen hören. Jeanne schaute nur flüchtig zu ihnen, dann eilte sie los. Siron folgte und auch Trigon beeilte sich, liess Ugos dabei zurück.
Im Kasernenhof hatten die Ritterschaft und die einfachen Soldaten eine Traube gebildet. Es war ein dichtes Gedrängel und doch hatte Jeanne wenig Probleme, sich an den anderen vorbeizudrücken. Spätestens, als sie den Kronprinzen hinter ihr sahen, machten sie Platz. Da erblickte Trigon über die Köpfe der anderen hinweg in der Mitte auch schon Alexander, der laut Ruhe und Ordnung verlangte. Neben ihm standen drei von der Stadtwache und hielten einen hageren Mann in Gewahrsam, der eindeutig nicht zu ihnen gehörte. Der Mann war unauffällig gekleidet, doch er trug eine Maske, die Trigon mit ihrer dunklen Farbe und den kupfernen Verzierungen stark an jemanden erinnerte.
„Wie ihr alle sehen könnt, bin ich unbewaffnet“, verkündete der Hagere, als es ruhig wurde. „Ich bin hier, um mit der Schwarzen Königin zu reden und euch im Namen des Heerführers ein Angebot zu machen!“
Wieder kam Unruhe auf und auch Trigon spürte sein Blut in den Adern pochen. Er musterte den Fremden so genau wie möglich, doch er konnte keine magische Spuren an ihm erkennen. Der Hagere war tatsächlich ein Mensch.
Siron drängte sich in die Mitte zu seinem Ohm.
„Du hast einen Fehler gemacht, als du diese Stadt betreten hast!“, rief er über die Forderungen und Verwünschungen seiner Kolleginnen und Genossen hinweg. „Darkeen wird nicht mit einem Monster verhandeln, das unsere Verwandten im Goldenen Reich auf dem Gewissen hat!“
Jeanne griff nach Trigons Arm, hatte ihre zweite Hand dabei bereits am Schwertknauf.
„Ist er …?“
Trigon war nicht fähig, sofort zu antworten. Er starrte den Hageren an und versuchte zu verstehen, wie einer herkommen und tatsächlich erwarten konnte, dass sie für Verhandlungen mit einem Hexer bereit waren, der dem Schlund folgte.
„N-Nein. E-E-Er ist ein … Mensch. Nur ein Mensch.“
„Und er spricht sogar mit Dialekt in der Stimme. Ein Landsmann. Ha.“
Jeanne konnte es genauso wenig glauben wie er.
„Lasst mich mit der Königin sprechen! Es gibt kein Entkommen! Wenn ihr euch ihm nicht freiwillig beugt, wird er euch in die Tiefe ziehen! Darkeen wird bluten!!“
Der Hagere war lauter geworden, schrie nun beinahe, und Liskias Kaserne reagierte. Was bisher noch Unsicherheit und Beklemmung gewesen war, wurde zu Wut. Die ersten zückten ihre Waffen, die Wachen waren verunsichert. Hätte Alexander nicht sofort dazwischen gegriffen und die Menschen an seine Autorität erinnert, wäre der Hagere hier, an Ort und Stelle, selbst zum Bluten gebracht worden. Und selbst nach Alexanders Machtwort waren nicht alle zufrieden. Der Hagere aber wurde in Fesseln gelegt und zu den Verliessen gebracht.
Die Aufregung war noch lange spürbar und Trigon spürte sie besonders innig, als er zuletzt mit Alexanders Erlaubnis nach dessen Informationsrunde vor die Ritterschaft trat. Beinahe hätte er sich nicht getraut, denn ihm war, als würden einige nur darauf warten, ihren frischen Zorn auf die nächstbeste Zielscheibe zu richten. Als Trigon ihnen aber von der Lüge erzählte, die hoffentlich bald keine mehr sein würde, kippte die Stimmung. Auf einmal wirkte der Besuch des Hageren nicht wie eine Herausforderung, sondern wie ein Zeichen von Schwäche. Ein Eingeständnis des Heerführers, dass sie, dass Trigon ihn besiegen würde. Trigon dachte an die beiden Briefe in seiner Tasche. Der Hagere war nur ein Mensch gewesen und seine Maske lediglich die schlechte Imitation derjenigen einer dunklen Gottheit. Dennoch erfüllte ihn einmal mehr die Furcht und er sah sich dem Schlund näher kommen.