Mehrere Wochen vergingen, ohne dass der Feind ihnen näher kam. Der Winter blieb ruhig und wenn Darkeens Soldaten auch wachsam waren, so lockerte sich die Stimmung in Liskia nach und nach. Inzwischen redeten einige sogar wieder über die Frühlingsspiele. Aber noch war der Frühling nicht da.
Es war der zweiundzwanzigste Abend des Spätwinters. Achtundzwanzig weitere würden noch kommen. Heute war kaum einem kalt und es dachten auch nur wenige an die Sorgen des Jahres. Ein grosses Fest fand zu Ehren der Prinzessin Lia statt, die ihren siebzehntes Lebensjahr vollendet hatte. Der höhere Adel hatte sich dafür in der Burg versammelt. Man ass, trank und diskutierte. Wegen seiner langjährigen Dienste als Ritter und seinem Stand als Hofmagier musste Trigon den Leuten präsent sein und gefallen. Das Fest war im Namen des Geburtstags der Prinzessin ausgerufen worden, aber es war gleichermassen auch eines zum Protest gegen den Heerführer und ein frühzeitiger Applaus für ihn, den Magier, der den Hexer aufhalten würde. Trigon hörte sie alle reden, spürte die Blicke und wäre gern unsichtbar gewesen.
Er machte sich Sorgen. Gerüchten zufolge würde der Feind schon bald in Na’Rin einmarschieren. Es gab auch Geschichten von einzelnen, die den Heerführer herausfordern und bezwingen wollten, aber keine ging glücklich aus. Den Brief an seinen Vater hatte Trigon abgeschickt. Noch wartete seine Familie auf ihn, aber irgendwann würden sie gehen müssen. Konnten sie überhaupt noch in den Norden, wenn auch Na’Rin fiel?
Dann war da der zweite Brief. Er war eine ständige Last, eine von so vielen, die sich in ihm in den letzten Monaten angestaut hatten.
„Es ist wirklich schade, dass die Königin sich gegen eine Vorführung deiner Kräfte entschieden hat“, sagte Ugos gerade und Trigon nickte, auch wenn er die Meinung nicht teilte. Er war froh, nicht noch mehr in den Mittelpunkt gezogen zu werden. Er befand sich in einer Sonderposition. Anderen Magienutzern begegneten die Menschen inzwischen jedoch misstrauisch. Es hatte vermehrt Übergriffe gegen niedere Drakar und auch andere Synten gegeben, die dem Volk zu fremd gewirkt hatten. Trigon hoffte, dass Daughn artig war und sich an das ausgemachte Magieverbot hielt.
„Gerade deine Lichtzauber sind doch so schön anzusehen. Peng und Puff und alle Schemen sind vertrieben! Ein Lichtspiel am Himmel oder im Wasser, besser gar als die Stornbold der silbernen Inseln es könnten, das hätte Lia verdient“, redete Ugos weiter.
„Ihre Geschwister h-haben auch nichts dergleichen erhalten“, murmelte Trigon.
Er wies Ugos nicht auf die Ironie hin, seine Lichter mit denen der Stornbold zu vergleichen. Er vergass es selbst manchmal, aber bevor Jade eine Hexe geworden war, hatte sie zu genau jener Familie gehört. Er erinnerte sich noch, wie sie ihm bunte Lichter hergezaubert hatte, als sie ihn zum ersten Mal besucht hatte. Vor all diesen Jahren, als seine eigene Magie erwacht war. Jade hatte hell und strahlend gewirkt, denn sie war eine gute Lügnerin.
„Das stimmt schon. Aber die einen sind noch klein und wüssten es nicht wertzuschätzen und Siron war doch viel lieber mit seinen Freunden die ganze Nacht im Wald jagen und Dummheiten anstellen. Davon abgesehen könnten die Leute in dieser kalten Zeit solch eine Freude gut gebrauchen. Sie sollten sehen, wozu jemand wie du fähig ist.“
Trigon schaute automatisch zum oberen Ende des Saals. Hinter den Tischen, dem Buffet und der Dienerschaft, über all den anderen Anwesenden, sass die Schwarze Königin. Sie unterhielt sich mit Alexander, der zu ihrer Rechten sass. Der Platz links war leer. Gerade eben war König Helmut noch anwesend gewesen. Hatte er sich verfrüht zurückgezogen? Weiter vorne auf der ersten Treppenstufe stand Lia. Sie hörte sich die Glückwünsche der einzelnen Gäste an, nahm deren Geschenke entgegen und reichte sie an Siron weiter, der ihr zur Seite stand, ähnlich wie sein Oheim der Königin. Keiner von ihnen liess sich an diesem Abend Schwäche anmerken.
„So … so fähig bin ich nicht. Meine Magie ist k-kein Vergleich zu der einiger Alben.“
„Na, na! Nicht schon wieder so schüchtern sein, mein Junge. Wenn einer dem Bösen die Stirn bieten können wird, dann du“, versicherte Ugos mit einem Augenzwinkern.
Inzwischen wusste wohl jeder in der Stadt, dass Trigon den Heerführer überraschen und von seiner magischen Quelle trennen wollte. Wie auch nicht, er hatte es vor allen in der Kaserne verkündet und seither kaum mehr schlafen können, so stark hatte er sich in die Bücher gestürzt, um aus der Behauptung eine Tatsache zu machen. Die Einzelheiten hatte er natürlich nur wenigen verraten und eigentlich war er auch noch nicht fertig mit der Studie. Doch er betete jeden Morgen und Abend zu Gäa und hoffte, dass sie ihn leiten würde. Und manchmal erwachte er mitten in der Nacht im Bett oder auch noch am Tisch in der Bibliothek und glaubte für einige Sekunden den Heerführer selbst vor sich zu sehen, der über ihn spottete, nun da er ihn so direkt herausgefordert hatte.
„Komm, wir sollten der lieben Lia ebenfalls unsere besten Glückwünsche ausrichten. Man wird schliesslich nur einmal siebzehn und mündig. Die letzte, kleine Stufe vor der grossen Zwanzig. Wäre die Lage gerade nicht so ernst, wären bestimmt noch viel mehr Gäste gekommen und unglaublich viele hohe Herren würden schon um sie werben. Die gute Lia wirkt eigentlich jetzt schon erwachsener als ihr Bruder. So stolz und edel sieht sie heute aus, ganz wie die Mutter.“
Trigon folgte Ugos müssig an den Tischen vorbei in Richtung der Prinzessin. Er überlegte, ob er noch eine Ausrede finden würde. Doch er war gross und er war der Magier, er stach heraus und Siron sah sie schon von weitem. Mit ihm bemerkten auch Lia und natürlich insbesondere die Königin, dass sie sich näherten, und da gab es kein Entfliehen mehr.
„Wie schön du auch aussiehst, meine Liebe! Wie fühlst du dich? Was werden deine ersten Entscheidungen sein, nun in der frischen Mündigkeit? Hast du schon alle begrüssen können und vielleicht auch ein paar besonders erquickende Herren erspähen können?“, bombardierte Ugos Lia sofort mit vielen Fragen und ignorierte dabei alle Gäste, die ebenfalls noch mit ihr hätten reden wollen.
Trigon schwieg und lächelte möglichst höflich. Die Prinzessin war ihrer Mutter zwar wie aus dem Gesicht geschnitten und Königin Bertha war eine gute Herrscherin. Lia jedoch besass im Gegensatz zu ihr eine sehr hohe Stimme, die Trigon die Ohren klingeln liess, sobald sie lauter wurde. Trotz seiner vielen Jahre am Hof hatte er mit der Prinzessin nur wenig Kontakt gehabt. Lia interessierte sich im Gegensatz zu ihrem Bruder gar nicht für die Ritterschaft oder seine Dienste als Magier.
Der Bruder stellte sich zu Trigon und stiess ihm unauffällig den Ellbogen in die Seite.
„Ihr seht blass aus, Herr Trigon“, wisperte er.
„Das hm … d-das müsste an der Luft liegen. Der Saal ist recht belebt u-und stickig“, log Trigon, halbwegs zumindest. Es lag auch an der Luft. Aber natürlich nicht nur.
„Wenn ich ehrlich sein muss“, Siron lehnte sich verschwörerisch zu ihm herüber, „geht es mir ganz ähnlich. Ich bin nicht traurig, wenn meine Freunde und ich bald eine Ausrede finden, heute noch andere Orte zu sehen. Der Altersdurchschnitt der hiesigen Gesellschaft ist doch etwas zu hart hoch für mich. Nichts gegen Euch, Herr Trigon.“
„Oh … hm“, machte Trigon etwas verloren. „Das ist schon … in Ordnung. Bei der letzten Feier waren d-deutlich mehr Menschen aus verschiedenen Orten anwesend mit … verschiedeneren Hintergründen und Geburtsjahren.“
„Obwohl die Musiker spielen, will niemand tanzen. Ein Kuhmarkt in Waldauen ist spannender als das hier“, fuhr Siron fort. „Mutter hat uns zudem verboten, kreativ zu werden. Man müsse schliesslich den Ernst der Lage des Landes und aller Anwesenden rundherum nicht vergessen. Dabei hätte ich Lia zu gerne einen Egel in die Torte gesteckt.“
„D-Das hättet Ihr b-bestimmt nicht, Siron“, ächzte Trigon.
Siron lachte und fasste sich ans Kinn, wie sein Oheim es oft beim Nachdenken machte. Nur fehlte bei der dicke Kinnbart. Trigon spähte kurz zu der Königin, aber sie und die anderen konnten das Gesprächsthema von dieser Distanz aus bestimmt nicht erraten.
„Nein, wahrscheinlich nicht. Zumindest nicht, solange nicht viel Alkohol im Spiel ist. Vielleicht am nächsten Tag dann, wenn nicht alle Leute zuschauen. Denkt Ihr, Herr Magier, Ihr könntet ungesehen einen Egel in die Esswaren anderer zaubern?“
„S-Siron, ich –! Nun, in Theorie w-wahrscheinlich … a-aber es wäre mir doch sehr unangenehm, es in der P-Praxis auszutesten!“
Der Kronprinz lachte noch einmal, verstummte aber, als Lia zu ihnen trat.
„Was planst du schon wieder, Ronni?“
„Nichts doch! Heute ist dein grosser Tag, liebe Lia, nicht meiner.“
„Das will ich hoffen. Mir hat schon die Hinrichtung dieses armen, verblendeten Tropfs heute Mittag gereicht. Mutter hätte sich einen anderen Tag dafür aussuchen können.“
Trigon versuchte keine physische Reaktion auf die Erinnerung zu zeigen. Der Bote des Heerführers hatte seine Audienz bei der Königin nicht erhalten und leider hatten sie auch keine neuen Informationen aus ihm herausgekriegt. Sie hatten ihm jede mögliche Chance gegeben, doch er hatte sie nicht ergriffen.