Es war der dreiundzwanzigste Spätwintertag und Less fühlte sich elend. Seine Sachen waren schon lange gepackt. Niemand hätte bemerkt, hätte er sie genommen und wäre noch vor dem Morgengrauen auf und davon. Aber der Morgen hatte die Stadt schon erreicht und er war weder in seiner eigenen Kammer noch alleine.
Die Ereignisse des Abends kamen nur langsam zu ihm zurück und diesmal konnte er nicht mal nur dem Vetseg die Schuld dafür geben. Er und Poul hatten sich gestritten. Wieder einmal, wie schon oft in diesem Jahr. Alles danach war durcheinander. Er wusste noch, dass er mit dem Magier gesprochen hatte. Allein der Gedanke an den Kerl machte ihn wütend. Und dann, dann hatte er sich bei Poul entschuldigt und Poul sich bei ihm? So musste es gewesen sein. Ja, genauso war es gewesen! Keiner von ihnen hatte noch Lust auf Feierlichkeiten gehabt, also hatten sie sich zurück zur Kaserne begeben. Poul hatte ihn gefragt, ob er wirklich gehen würde und gesagt, wie traurig ihn alles machte.
Less schaute zu seinem Freund und stupste ihn leicht an, aber Poul erwachte nicht. Kurz überlegte Less, ihn richtig aufzuwecken. Mit einem kräftigen Schlag auf den blanken Hintern. Aber er schaute Poul nur an und fühlte sich schlecht. Bald wurde es zu viel für ihn. Möglichst leise und eilig zog er sich an und verliess die Kammer. Hatte er seinen Freund ausgenutzt? Sie hatten sich im ersten Ausbildungsjahr einmal geküsst und dann festgestellt, dass das nicht passte und sie lieber einfach Freunde waren. Sie hatten oft im gleichen Bett geschlafen, aber nicht so. Doch gestern war Less so einsam und Poul so klammernd gewesen. Wütend, aber auch hauptsächlich klammernd und drängend und wieder hatte er von diesem letzten schönen Abend geredet. Poul war sein bester Freund, sein einziger Freund, und trotzdem hatte Less vor, ihn zu verlassen. Ira hätte –
Nun wurde Less aus ganz anderen Gründen schlecht. Er schluckte leer und verliess das Gebäude, zog die frische, kühle Winterluft durch die Zähne. Er erinnerte sich. Ira würde bald nach Liskia kommen. Er wollte sie nicht sehen. Aber auf einmal fühlte es sich falsch an, ohne einen richtigen Abschied den Ort zu verlassen, an dem er die letzten Jahre verbracht hatte. Diese Stadt, die vielleicht mehr ein Zuhause war als der Ort, an dem er auf die Welt gekommen war. Nicht dass das eine schwierige Errungenschaft gewesen wäre.
Niemand hielt, um mit ihm zu sprechen oder ihn überhaupt anzusehen. Niemand ahnte etwas von seinen Plänen. Less war, als wären alle eher wach als sonst und noch sinnloser am Herumwuseln. Er erreichte die Aussenmauer des Kasernenareals und stieg hinauf zu den Zinnen. Bald kamen die Ställe und der eine Torbogen, der hinüber in die Gartenanlage und von da weiter zur Burg führte. Ob die Adeligen noch immer feierten? Ob sie an ihrem selbst zu dieser Jahreszeit überfüllten Buffet zusammengebrochen waren und noch dort lagen? Less hatte kein Bedürfnis, es herauszufinden. Aber unter dem Torbogen entdeckte er zwei Gestalten und auf einmal schlug sein Herz schneller und er musste sich an den Zinnen festhalten, um nicht über seine eigenen Füsse zu stolpern.
Eine der Gestalten war der Oberbefehlshaber. Less erkannte ihn an dem zinnoberroten Waffenrock über der leichten Rüstung, der ihn als Obersten der Kaserne und wahrscheinlich auch Angehörigen der Königsfamilie auswies. So formell sah er sonst nur an Zeremonien aus. Oder in einem Ernstfall. Die andere Person besass rotblondes Haar und trug ein weisses Kleid und ihre Präsenz liess ihn erschaudern und blinzeln, obwohl sie es doch selbst gewesen war, die ihn mit dem Fluch, dem Aussehen eines Kobolds und den dazu unerwartet guten Sinnen alleine gelassen hatte. Ohne den Fluch hätte Less Ira aus dieser Distanz nie erkannt, nie bemerkt und vielleicht hätte er einen anderen Weg eingeschlagen und dann wäre er zu seinem Zimmer und er hätte seine Sachen genommen und wäre verschwunden. Aber er sah sie und er spürte sie ganz deutlich und auf einmal lief sein Körper wie von selbst in die Richtung. Er redete sich ein, dass es seine Absicht war, er sich ihr ein letztes Mal stellen wollte, um endgültig mit ihr abzuschliessen. Aber er wusste, dass er sich damit selbst zum Narren hielt.
Die beiden hielten ihre Stimmen gesenkt, weswegen Less die Worte erst vernahm, als er sich bereits beinahe über ihnen befand. Ira stand unter dem Torbogen, von der Position aus konnte er sie nicht sehen. Nur auf den Oberbefehlshaber konnte er knapp hinunterblicken. Das war gut, so ging es besser. Dennoch kauerte er sich leicht zusammen, als er ihnen lauschte.
„… keine andere Möglichkeit“, sprach der Oberbefehlshaber gerade.
„Natürlich. Ich werde jeden Funken Energie in den Schutz der Stadt leiten, den ich noch aufbringen kann“, antwortete Ira und klang dabei beinahe sogar ehrlich.
„Ihr habt meinen Respekt, Ira, nach einem solch langen Morgen überhaupt noch Energie teilen zu können und wollen. Ich bin Euch sehr dankbar, aber bitte lasst dennoch etwas übrig. Niemand von uns weiss, was noch passieren wird.“
„Gewiss. Teilt auch Ihr Eure Kräfte gut ein, Alexander, und passt auf Euch auf.“
Für einen Moment hörte Less nichts mehr und das beunruhigte ihn. Immerhin war Iras Wächter für den Schemen der Stille verantwortlich. Dann aber räusperte sich Alexander:
„Ich weiss, dass die Zeit rinnt, Ira, und doch … Als Ihr nach den anderen Städten geschaut habt –“
„Für Waldauen und Larne ist es bereits zu spät, aber Nava ist unberührt und nicht nur unter meinem direkten Schutz. Der Plan besteht weiterhin und ich werde Eure Schwester und die Kinder in die Obhut des Sirrings bringen.“
„… vielen Dank, Ira. Gebt mir Bescheid, sobald Ihr hier alles erledigt habt.“
Less spähte vorsichtig über die Zinnen. Alexander entfernte sich, verschwand bald im Hauptgebäude. Ira folgte nicht und auf der anderen Seite nach ihr spähen wollte er nicht. Auch wenn er nicht das ganze Gespräch mitverfolgt hatte, verstand er auf einmal, warum an diesem frühen Morgen alle so gehetzt wirkten. Auf einmal wunderte ihn, dass nicht noch mehr wach waren und niemand ihn oder wenigstens Poul aus dem Schlaf gerüttelt hatte. Dabei hatte er doch heute –
„Du wirst einem Kobold wirklich immer ähnlicher“, erklang Iras Stimme auf einmal so nahe an seinem Ohr, dass Less zusammenzuckte. Sie stand nicht bei ihm, aber ihre Stimme verschwand nicht aus seinem Ohr, als er zurückwich und sich nach ihr umschaute.
„Komm zu mir herunter. Wenn du mich belauschen kannst, dann kannst du mir auch ein letztes Mal ins Gesicht sehen.“
Less wollte sich Ira nicht stellen. Selbst ohne ihr Gesicht vor seinem zu haben, fühlte er sich machtlos und eingeengt. Aber hätte er das vor ihr zugeben können? Dann hätte sie einmal mehr gewonnen und er würde sie tatsächlich nie vergessen. Wenn sie einen Wunsch hatte, dann hatte er zu gehorchen. Er hatte die nächste Treppe erreicht, noch ehe ihm klar wurde, was hier gerade einmal mehr passierte.
Er versuchte Ira nicht anzusehen, aber alles um sie herum war grau und unscharf. Sie trug die Lederkette mit dem Rhodonit. Sein erstes, offizielles Geschenk nach der Rittertaufe. Nach dieser einen, dummen Nacht. Hier stand Ira nun vor ihm, nach einer weiteren, ach so dummen Nacht und ihr Blick war voller Verachtung.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du deinem Schwur für Liskia treu bleibst, nachdem du den meinen so grässlich gebrochen hast.“
Wie immer war ihr Haar zurückgebunden. Ihre Finger spielten mit dem Rhodonit. Less öffnete seinen Mund, aber ihm fiel keine Antwort ein. Er war starr.
„Hast du aufgegeben, dir weitere Lügen auszudenken?“, spottete Ira und lächelte kurz, lächelte kalt. „Wie schade, dass es dein letzter Tag in dieser Welt sein wird.“
„Also stehen wir tatsächlich unter Angriff“, stellte Less endgültig fest.
„Schon seit einer ganzen Weile. Der Heerführer arbeitet zügig. Waldauen und Larne sind schon jetzt verloren und auch hier werden eure Feinde bald ankommen. Dabei wirkt Liskia gerade noch so verschlafen und ruhig.“
Seltsamerweise fühlte sich diese Nachricht für Less weniger schlimm an als die Tatsache, dass er sie von Ira hörte, den Blick kaum von ihren violetten Hexenaugen abwenden konnte.
„Und du und Ziff … seid ihre Vorboten.“
Less sah ihre Hand kommen, aber noch immer war er starr. Ihre Ohrfeige war laut, viel gezielter und geübter als die von Poul gestern. Er hatte es verdient. Er hatte alles verdient. Er war wohl wirklich ein Verräter, ein Narr und ein Lügner.