Sein Freund summte unbesorgt vor sich hin, Less aber fühlte sich mindestens so dreckig wie ihre Umgebung tatsächlich sein musste. Seit fünf Tagen stampfte er ohne Ziel und Fortschritt durch die Abwasserwege unter der Stadt. Man hätte meinen können, inzwischen hätte ihm der Geruch nichts mehr ausgemacht. Aber im Gegenteil! Er verfolgte ihn jeweils noch den ganzen Abend und bis in den Schlaf hinein. Nicht, dass sein Schlaf gut gewesen wäre.
„Was meinst du, Less?“, fragte Poul, als stünden sie nicht gerade wortwörtlich in der Scheisse der weissen Stadt.
„Hm?“, machte Less lustlos und blieb stehen.
„Wenn wir nicht aufpassen und einfach so falsch abbiegen … fallen wir dann durch ein Loch die ganze Klippe der Fluh hinunter?“
Less schnaufte. Der Gedanke an solch einen Ausweg amüsierte ihn etwas zu sehr. Leider war auch das nur von kurzer Dauer und alles wurde düster.
„Da haben die dicke Eisengitter angebracht, du fällst nicht raus. Rein kommt auch keiner, darum ist dieser Auftrag auch absoluter Dreck! Die wollen mich nur aus dem Weg schaffen.“
Fünfzehn Tage erst war es her. Am Morgen des ersten Frühherbsttages war Less erwacht. Alleine, orientierungslos und verwirrt, mitten in einem Wald. Seine Erinnerung war nur langsam zurückgekehrt und sein Körper war so schwer und ihm fremd gewesen … Hätte ihn dieser Holzfäller nicht gefunden, er wäre noch lange nicht fortgekommen. Als er endlich in Liskia angekommen war, hatten ihn alle angestarrt. Sie hatten ihn kaum in den höheren Ring und zur Burg gelassen! Natürlich hatte das an seinem Aussehen gelegen, aber ein Teil von ihm glaubte, dass es ihnen nur eine gute Ausrede gewesen war. Tagelang hatten sie ihn dann in einem isolierten Quartier gehalten und versucht, die düstere Magie aus ihm herauszujagen. Alles ohne Erfolg. Die Leute begannen Fragen zu stellen und auch Less hatte viele Fragen. Fragen, Sorgen und vor allem grässliche Emotionen, die in ihm brodelten. Aber anstatt ihm zu helfen, hatte der hohe Adel ihn mit der Aufgabe, die unterirdischen Fluchträume und das Abwassersystem der Stadt auf Auffälligkeiten abzusuchen, wortwörtlich aus den Augen geschaffen. Liskia wurde die weisse Stadt genannt, aber hier unten sah man ihren Schmutz.
Poul kickte etwas ins Wasser, das hoffentlich ein Kiesel und wahrscheinlich etwas ganz anderes war. Er war an diesem Mittag freiwillig mitgekommen und bereits jetzt schien ihm die Umgebung überhaupt nichts mehr auszumachen. Natürlich machte es ihm nichts aus, denn Poul Frido Milander hatte noch nie ein Problem in seinem Leben gehabt, für ihn war immer alles einfach. Less war ihm deswegen nicht böse, aber er konnte es auch nicht verstehen.
„Also so stark wie die Karte schon markiert war, ist sicher nicht mehr viel übrig! Wir kriegen das alles noch heute hin! Dann gehen wir am Abend trinken und ich leg im Fall bei der Königin ein gutes Wort für dich ein, dann musst die nie mehr runter!“, versprach Poul.
„Pha. Ich sagte doch, dass hier keiner runterfällt“, schnaufte Less.
Poul streckte ihm die Zunge raus, dann beugte er sich mit einem viel zu verschmitzten Grinsen vor. Less hob verwundert die Augenbrauen, doch es war zu spät. Sein Freund schnipste ihm gegen sein rechtes Ohr und lachte, als Less stark mit beiden zuckte und sie im Reflex nach hinten legte. Ohren, als hätten Fuchs und Kaninchen ein Kind gehabt. Zähne wie ein Hund und ein Schweif mit Fell am Ende wie ein dummer Esel. Einzigartig. Spannend. Lustig. Ha. Ha. Ha. Ihm fehlten nur die passenden Beine und Finger und er wäre ein echter Kobold gewesen. Mit der tatsächlichen Körpergrösse eines Kobolds aber hätte die Königsfamilie ihn nicht in diesen grässlichen Kanälen verstecken müssen.
„Lass das!“
Poul gluckste.
„Ich kann nichts dafür, Less! Du machst mit diesem Aussehen wohl einigen Angst – ich aber, ich finde das eigentlich echt niedlich!“
Kommentarlos drehte sich Less um und ging weiter. Bald erreichten sie eine Sackgasse und er konnte einen weiteren Sektor von der Karte streichen. Hier unten war überhaupt nichts auffällig. Er hätte das schon nach dem ersten Tag bestätigen können, aber einmal mehr hatte niemand auf ihn hören wollen. Er hatte die Worte dieser eitlen adeligen Darken noch gut im Kopf. Eine Schande für die Ritterschaft sei er mit diesem Aussehen. Eine noch grössere Schande als eh schon. Man müsse sofort eine Lösung finden oder Konsequenzen in die Wege leiten. Aber für solch einen Fluch gab es keine schnelle Lösung. Less hatte erst zu seiner Liebsten wollen, denn niemand kannte sich mit Flüchen besser aus als sie. Aber bald wurde klar, dass sie selbst den Fluch hatte aussprechen müssen. Das zumindest behaupteten die Zauberer und auch der eingebildete Magier. Aber das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Less’ hatte sie am letzten Sommerabend besucht. Sie hatte explizit nach ihm verlangt. Danach brach seine Erinnerung ab und setzte erst wieder im Wald ein. Man hatte ihr einen Boten geschickt, aber bis heute war keine Antwort gekommen.
Less wollte Poul gerade mitteilen, dass sie für heute Schluss machen würden, als er ein Geräusch hörte. Es war ein lautes Kratzen von Stein auf Stein.
„Was hast du?“, fragte Poul.
Er schien nichts bemerkt zu haben. Das war etwa das fünfte Mal seit seiner Rückkehr nach Liskia. Der Fluch, der auf ihm lag, schien nicht nur rein visuell zu sein. Less’ Sinne waren schärfer als zuvor, seine Nase sog jeden noch so schlimmen Geruch ein, seine Augen sahen selbst die angewiderte Mimik von Leuten am Ende einer Gasse und seine Ohren hörten jede einzelne Beleidigung. Es war eine Strafe. Aber er hatte doch nichts falsch gemacht!
„Bleib kurz hier und halt die Laterne“, wies Less seinen Freund an.
Leise schlich er den Weg zurück und in einen engeren Seitentunnel. Sie waren nicht alleine hier unten, obwohl der Kanalreiniger ihnen erzählt hatte, dass er heute nicht hier sein würde. Er hatte auch Less’ Vermutung bestätigt, dass hier unten niemand sonst war. Jetzt aber bemerkte Less einen neuen Geruch zwischen all dem Schmutz. Er blinzelte und zog vorsichtshalber seinen Dolch. Er erreichte das Ende des engen Tunnels und der Geruch wurde stärker. Es roch nach … frischem Brot?
Less tastete die Wand ab und bemerkte eine Lücke im Stein. Mit genau dem Geräusch, das er zuvor vernommen hatte, verschob sich die Wand um ein ganzes Stück, als er an ihr zog. Hinter ihr kam eine vergleichsweise trockene Kammer zum Vorschein. Einzelne Lichtkegel reichten bis in die Kammer hinunter und so erkannte Less problemlos nicht nur die magere Einrichtung, sondern auch die zwei Gestalten, die zwischen mehreren Ratten hinter einer alten Holzkiste kauerten. Sie waren jung und ihre grossen, runden Ohren und die spitzen Nasen wischten sofort jeden Zweifel daran fort, dass sie Menschen waren. Das erkannte Less gerade noch, ehe die beiden verschwanden und zwei Ratten mehr durch die Löcher im Gemäuer davonstoben. Less steckte den Dolch weg, betrachtete die Kammer für einige Momente, seufzte dann und schob die falsche Wand wieder an ihren Platz.
„Und? Erfolg gehabt?“, wollte Poul wissen, als Less zu ihm zurückkehrte.
Less schüttelte den Kopf und hoffte, dass Poul nicht auffiel, wie stark seine verfluchten Ohren schon wieder zuckten.
„Hier ist nichts ausser Ratten. Lass uns gehen.“
„Näi? Find ich gut“, stimmte Poul ihm zu, denn natürlich wollte er einmal mehr kein Problem in seiner perfekten kleinen Welt im perfekten kleinen Hügelland finden. „Am Ende bleibt der Geruch noch an uns kleben und was sollte dann meine Rena denken?“
„Was soll sie schon denken“, brummte Less, der eigentlich über gar nichts mehr reden wollte, aber leider merkte Poul auch das nicht. Stattdessen begann er lange und laut über seine junge Liebe zu reden, als hätte er das die Tage nicht schon etliche Male getan. Less musste unweigerlich an seine eigene Liebe denken. Wieso hatte sie sich nicht gemeldet? War etwas passiert? Die Ungewissheit zerriss ihn und keiner wollte ihn verstehen und erst recht keiner wollte ihm helfen. Aber so war es schon immer gewesen. Die Stadt war weiss, aber sie und auch das Land und erst recht seine Leute waren dreckig.