Es war der Durst, der Less zuletzt aus dem Schlaf quälte. Er erinnert sich an keinen Traum und auch nicht an seine Gedanken vor dem Schlaf. Er erinnerte sich jedoch stechend genau an alles davor. Die Schlacht. Der Transport. Tefhel.
Less setzte sich schlagartig auf, hustete. Noch immer befand er sich in seiner Zelle. Wo denn sonst? Noch immer war er alleine, alles war gleich, gleich trostlos. Die Lichtverhältnisse hatten sich verändert. Die Sonne musste höher stehen. Im Süden stand sie immer etwas höher, und was von ihr überhaupt durch die kleine Öffnung an der hinteren Wand drang, war gleissend. Less erhob sich und versuchte einen guten Blick durch den Spalt auf die Aussenwelt zu erhaschen. Er konnte den Himmel nicht sehen. Nur noch mehr Mauern. Mehr Tefhel.
Er verlagerte sein Gewicht falsch und musste sich an der Wand festhalten, um nicht gegen sie zu knallen. Sein Blick fiel auf seine rechte Hand und den Verband. Erstaunlicherweise pochte sie viel weniger als am Vortag. Vorsichtig löste Less den Verband und musterte seine Knöchel. Die Haut war noch immer etwas dunkler als sonst, beinahe purpur. Aber die Fingerknochen bewegten sich gut wieder einzeln. Less ächzte leise, verband die Hand wieder. Es war besser, wenn der Feind ihn unterschätzte. Vielleicht konnte er den Stoff noch anders gebrauchen. Später dann.
Ein zweites Mal ächzte Less trocken, dann drehte er sich um und stellte sich dem Anblick, der ab heute wohl seine tägliche Unterhaltung sein würde. Er musste lange geschlafen haben, denn die anderen waren bereits alle wach. Miller stand an den Eisenstangen und drückte sich dagegen, versuchte sein schmales Gesicht so weit wie möglich nach vorne zu kriegen, um in die Nachbarzelle zu starren. Vielleicht einfach zu Luft zu werden und zu verschwinden. Zeckora lehnte neben ihm an der Wand und flocht sich das dicke, wirre Haar. Anna war in der Mitte ihres Käfigs und absolvierte die Dehnübungen, die sie aus dem Soldatentraining kannte. Sie hatte einen eisern tapferen Gesichtsausdruck aufgesetzt und wurde genau von Lisa beobachtet, ehe sie sich zu Anna stellte und ihre Körperhaltung bei einer der schwierigeren Übungen korrigierte.
„Du bist eine Grick, ha?“, vermutete Less, als er näher an den Gang herantrat, der sie zusätzlich zu den Stäben trennte.
Lisa schaute auf und lächelte kurz, wirkte aber bitter dabei.
„Auch endlich auf? Aber ja. Cragvim-Grick und das schon, seit ich eine Waffe halten und damit einen ganzen Steppenlauf absolvieren kann. Aber ist nicht so, als ob dir das gross zusagen kann. Ich konnte schliesslich nichts gegen den Schemenkrieger unternehmen und werde noch viel länger als du hier verrotten.“
Less stockte, spürte das Feuer der letzten Tage kurz wieder in ihm flackern.
„Ich sagte nicht verro–! Was hört eine wie du überhaupt auf einen jämmerlichen Dämonenwicht.“
Zeckora spähte hinter Miller hervor, kniff die hellstechenden Augen zusammen.
„Ich bin kein Dämon und ich bezweifle, dass dir überhaupt klar ist, was das Wort bedeutet, Karottenkopf.“
Less lachte künstlich auf, denn den Darken war tatsächlich noch nie in den Sinn gekommen, ihn so zu nennen. Ihre Karotten waren ihnen dafür zu heilig gewesen.
„Zeckora ist eine Seraei, Herr Less“, mischte sich Anna ein, bemühte sich so wie früher zu wirken, vor dem Käfig. „Die Seraein sind sehr seltene und mächtige Zwischenwesen… äh Synten. Ja Synten. Keine Dämonen, aber auch keine Alben? Sie sind mehr mal so und mal so auf der Mitte vom magischen Spektrum.“
Ihm war wirklich nicht danach, von diesen Kindern belehrt zu werden, weswegen Less die Augen verdrehte und in Zeckoras Richtung nickte.
„Ach? Wenn der Wicht da drüben so selten und mächtig ist, was macht er dann in einer Zelle unter uns unwürdigen Sterblichen?“
Das war ein gutes Argument gewesen, denn Zeckora zog den Kopf ein und versteckte sich hinter dem teilnahmslosen Miller. Anna hielt in der Bewegung inne und runzelte die Stirn. Lisa schnaufte.
„Ich sagte doch, dass ihr euch nicht reizen sollt. Das hilft hier niemandem. Less, Zeckora ist kein Dämon und selbst wenn sie einer wäre, ist sie hier wie wir alle eine Gefangene.“
Less sagte nichts weiter dazu, denn mit Lisa zu streiten kam ihm sinnlos vor. Dennoch traute er der Situation nicht. Er hatte viele Fragen, aber er wusste nicht, ob ihm die Antworten gefallen würden. Gerade wirkte alles trügerisch harmlos. Wirkte beinahe gemütlich, wären da nicht die Gitterstangen gewesen, das Schloss vor der Tür. Der Geruch von Staub und altem, altem Blut. Herumsitzen half ihm aber nicht. Sein Körper war in den letzten Tagen genug lange herumgelegen, hatte genug Rost angesetzt. Er würde nicht hier bleiben. Er würde kein weiteres Opfer von Tefhel werden. Dafür musste sein Körper funktionieren, sobald sich die Gelegenheit ergab. Er musste rennen können, musste kämpfen können. Er durfte nicht stürzen.
„Ich w-w-wünschte, meine Vorfahren … hätten trotz der M-Mi-M– also trotz Darkeen nicht aufgehört Westen zu sprechen“, krächzte Miller auf einmal.
„Du wirst viel Zeit haben, es noch zu lernen, Ron. Sonst tust du jo nicht viel“, kommentierte Anna.
„Ach! S-Sei du d-doch ruhig!“, fauchte Miller gehässiger, als Less ihm zugetraut hätte.
„Ich kann dir gerne ein paar Sätze beibringen. Du bist noch jung und dann lernt man so etwas schnell“, nuschelte Zeckora und als Less einen Blick rüber warf und sah, wie nahe der Nicht-Dämon an Miller stand, war er um seine eigene jähe Sorge erstaunt.
„I-Ich … bin schon zwanzig geworden. Am dritten Tag im Spätherbst“, sagte Miller.
„Woah! Doch schon? Du wirkst noch gar nicht so erwachsen!“
„… d-danke? Meine Mutter h-hat mir einen schönen Schal geschenkt. Ich wünschte, ich h-hätte den jetzt … auch. Er hat mir G-Glück gebracht.“
„Mein Geburtstag war auch gerade erst vor sechs Tagen! Am einundzwanzigsten Spätwintertag also. Ich bin jetzt süsse fünfzehn Jahre alt. Denke ich? Es …“
Less horchte auf und gleichzeitig wanderten seine Gedanken davon. Die Feier in Liskia war am zweiundzwanzigsten gewesen. Der folgende Morgen hatte die Schlacht gebracht. Vier Tage war das also her. Vier Tage. Selbst das goldene Reich hatte nur drei Tage Widerstand leisten können. Was war also noch von Darkeen übrig? Wirklich nur er und diese zwei gegenüber, die nur vor den Augen eines unglaublich willkürlichen Gesetzes als erwachsen gesehen werden konnten?
Auf einmal wurde es unruhig und laut im Zellenblock. Es wurden Dinge gerufen, die Less nicht alle verstand. Er trat näher an die Stäbe und zuckte doch zusammen, als drei Feinde sich vor sein Sichtfeld schoben. Eine der Wachen hatte einen Schlüssel dabei. Sie schloss erst bei Miller und dem Nicht-Dämon auf, dann bei Anna und Lisa. Erst danach bei ihm. Less ballte die Fäuste und machte sich bereit zum Angriff. Dann aber fiel ihm Lisas Blick auf. Sie starrte ihn intensiv an mit ihren dunklen Augen. Er konnte nicht darin lesen, was sie fühlte. Aber sie schüttelte den Kopf und das war eindeutig. Less wollte nicht auf sie hören, aber dann waren die Dämonen schon weiter und als er bei der Zellentür war, war Lisa bereits draussen und baute sich streng vor ihm auf.
„Riskier hier nichts, Leather. Nicht jetzt. Glaub mir“, hauchte sie ihm zu.
In Less sträubte sich alles und trotzdem öffnete er sein Fäuste wieder, atmete tief durch und nickte dann. Am Ende und des Korridors standen weitere Wachen. Er war unbewaffnet. Es war eine Ewigkeit her, seit er Tefhel selbst gesehen hatte, aus einer anderen Perspektive als dieser Zelle. Lisa war länger hier. Sie wusste, wann der richtige Moment war. Aber wollte sie denn überhaupt weg?
„Was passiert nun mit uns?“, fragte Anna.
„Zuerst einmal … Es ist nun Mittag. Ihr seid neu und kennt euch noch nicht aus. Ihr dürft heute gerne mit mir essen“, entschied Lisa.