Die Gefangenen wurden im Korridor zusammengescheucht, dann unter den wachsamen Blicken ihrer Feinde woanders hingebracht. Diesmal merkte sich Less den Weg ganz genau. Sie erreichten einen Innenhof. Vielleicht der, in dem er gestern gelandet war, vielleicht auch ein anderer. Es musste mehrere davon haben, wenn er sich richtig erinnerte. Sie waren nicht die einzige Gruppe Gefangene. Eine andere befand sich bereits im Hof. Gemeinsam waren sie dreissig … vielleicht sogar vierzig Leute? Sie waren dem Feind zahlenmässig überlegen. Aber der Feind hatte nicht nur unten Wachen, sondern auch oben auf den Wehrgängen und diese hatten Armbrüste. Less hatte nichts.
Lisa zog ihn mit in den Hof hinein und beinahe stolperte er. Sie stellte ihn und die Darken verschiedenen Leuten vor, deren Gesichter und Namen vor Less auftauchten und gleich wieder verschwanden. Lisa musste tatsächlich schon eine ganze Weile eine Grick sein oder aus anderen Gründen gut bekannt. Sie wurde von den Leuten wie eine Autoritätsfigur behandelt. Irgendwann kamen sie zu einem besonders sonnigen Fleck und Lisa wies ihnen an, sich zu setzen. Less blickte in den Himmel hinauf. Es war Winter und darum auch hier nicht heiss. Aber die Sonne stand hoch und ihre Strahlen fühlten sich gut an. Für einen Augenblick wollte er gar nicht darüber nachdenken, wie er fliehen würde. Er war so müde. Hatte er denn überhaupt ein besseres Leben verdient?
Anna setzte sich nahe zu ihm. Miller hielt mehr Abstand. Lisa kam bald wieder und sie war nicht alleine. Drei Männer waren bei ihr. Zwei davon trugen mehrere Schüsseln und grosse Krüge. Wasser. Essen. Less leerte seinen Krug so eilig, dass er sich beinahe daran verschluckte. Erst dann schaute er sich das Essen genauer an. Es war ein grauer Brei und kurz war er tatsächlich enttäuscht. Geschmack war im Brei kaum vorhanden und er war etwas sandig? Aber Less war auf einmal so hungrig. Er musste bei Kraft bleiben.
Nur ein Mann blieb mit Lisa bei ihnen in der kleinen Runde. Lisa stellte ihn als Bernd vor und ihre Verwandtschaft wäre auch klar gewesen, wenn sie ihn nicht Onkel genannt hätte. Bernds Haar besass bereits ein dunkles Grau. Seine Augenbrauen waren wild, seine Barthaare aber spröde und wenig deckend. Ihm fehlte ein halbes Ohr und der linke Arm. Seine rechte Hand besass nur noch drei Finger und zitterte etwas, dennoch hatte er seinen Brei als erster ausgelöffelt und erzählte gleich stolz, wie erst einst eine mittländische Hellebarde ergattern und gegen eine besonders garstige Harpyie hatte einsetzen können.
„… nichts natürlich gegen Euch und Eure Könige“, beendete er seine Geschichte gerade.
Miller sagte aus verständlichen Gründen nichts dazu, aber auch Anna wirkte auf einmal wieder sehr eingeschüchtert. Less schnaufte und blickte zu den Armbrüsten hoch, begann sie zu zählen, wurde jedoch leider von Bernd wieder abgelenkt.
„Du bist aber natürlich gar nicht von dort, nicht wirklich, ha? Belle sagte mir vorhin, dass du eins der Leather-Kinder bist. Aber mit so viel Ohr hatte ich die nicht in Erinnerung!“
Less hasste sich für das sofortige Zucken, das durch seine Ohren ging. Er funkelte Bernd finster an und richtete seine drei Ohrringe. Sie waren klein, mit einer kurzen Nadel. Aber vielleicht reichte es als Waffe, wenn er gut genug zielte?
„Meine Ohren gibt es so nur einmal“, knirschte er.
„Herr L-Less ist verflucht worden, Herr Clay“, erklärte Anna, obwohl sie einmal mehr niemand um Erklärung gebeten hatte.
„Das passiert wohl, wenn man im Mittelland die Schnösel schlecken geht. Nicht wahr Err?“
Bernd lachte und Less wusste nicht, ob er mehr auf ihn oder auf Anna wütend sein sollte.
„Bei Vasteas Brüsten, niemand hat dich gefragt, Glatze! Und du, Miller, sollst mal nicht so schief glotzen!“, entschied er sich für gleich beide Darken.
„Dreck! Ihr habt nie über Eure Heimat geredet, Herr Less! Aber wir sind jetzt hier und da würde ich gerne wissen, wie wir uns zu behaupten haben! Ausserdem hat er gefragt!“, fauchte Anna zurück. Miller haspelte, versteckte sich hinter seiner halbvollen Schale.
„Ich verstehe wirklich nicht, was einer wie du bei der Ritterschaft wollte“, fuhr Bernd unbekümmert fort. „Hab die einmal in meinem Leben getroffen und das hat mir gereicht. Glänzen nur so lange in ihren Rüstungen, bis sie der Hitzeschlag umkippen lässt.“
„Wie kam es denn zu diesem Fluch?“, fragte Lisa, aber sie fragte nicht ihn, sondern Anna.
Less konnte nicht fort. Er war gefangen. Die Wände des Innenhofs waren hoch und sie kamen immer näher, engten ihn ein. Es war Winter, aber die Sonne brannte und alle schauten ihn an.
„Bei allen verfluchten Schemen, dem Heerführer seinem Arsch und Yarr selbst! Ich will nicht darüber reden und ich will auch nicht euch darüber reden hören! Über gar nichts davon!“
Less wurde erst klar, was und wie laut er es gesagt hatte, als er die verächtlichen, mitleidigen und angewiderten Blicke der anderen sah. Als ihn jemand mit dem stumpfen Ende des Speers anstiess und die Lederschnauze auf ihn herabschaute.
„Nichtschen. Lithrilka.“
Die Echse war ein kleines Exemplar. Less sprang auf und hielt ihr drohend seinen Löffel entgegen. Nun war er derjenige, der auf sie herabschaute. Lederschnauze fauchte, schwenkte seine Waffe. Dann war aber Lisa schon zwischen ihnen und redete in brüchigem Rasa auf die Echse ein. Less wurde übel, als er sah, wie sie Lederschnauze auf einmal über die hölzerne Maske strich und ihm die grünen Nüstern kraulte und die Echse im Gegenzug ihre Krallen an ihren Bauch legte. Erst der Nicht-Dämon in der Nachbarzelle, der jetzt, kaum hatten die Wachen sie geholt, auf einmal fehlte. Jetzt das. Niemand kam je wieder aus Tefhel raus. Less war alleine.
„Ihr seid keine verdammten Grick! Keine Kämpfer und keine Hüter eurer Heimat! I-Ihr habt euch mit Tefhel den Feind zum Komplizen gemacht und k-küsst ihm nun die Klauen!“
Er wich einen Schritt zurück, knallte dabei fast in den nutzlosen Miller hinein. Lisa drehte sich um. Sie sagte viel zu lange nichts, dann zeigte sie ihm ihren Finger, keine Emotion, nur das.
„Kobold“, war alles, was sie ihm zu sagen hatte. Sie lief davon. Die Lederschnauze lief ihr nach. Bernd versuchte tatsächlich einen Witz zu machen und auf einmal war der Mittag vorbei. Er, die Darken und auch andere wurden wieder weggeleitet. Less wollte sich den Weg merken, wollte den Fluchtweg finden. Aber sein Körper gehorchte ihm nicht.
„Mir ist k-k-kalt … Ich wünschte, ich h-hä-hätte meinen Schal“, jammerte Miller wieder.
„Der Feind hat dich in der Schlacht fast erwürgt mit deinem blöden Schal, Ron!“, zischte Anna. „Wach endlich auf!!“
„D-Du musst nicht s-s-so ge-g-ge… so scheisse zu mir sein, Anna! Immer warst du s-so zu mir! Du bist nicht besser als die!“
„Ich war nicht –! Ich wollte nur –! Es tut mir leid, ja?!“
Er schniefte und auf einmal schniefte auch sie und Less war immer noch übel. Sie standen vor einem Tunnel, der nicht zum Rest der Anlage passte. Er war nicht aus dem gleichen Stein wie die Gänge, sondern ein Loch, direkt in den natürlichen Stein geformt. Dahinter kam eine Wendeltreppe. Es ging tiefer und tiefer, so tief, dass Less glaubte, dass sie bereits Tarvea erreicht haben mussten. Ihm fiel das Atmen schwer. Die wenigen Fackeln an den Wänden warfen grosse Schatten und füllten alle Ecken mit Schemen.
Einer der Feinde zeigte ihnen mehrere Kristalle. Einige waren transparent und mit schwarzen Fäden und Splittern durchzogen, als würde die dunkle Magie darin selbst heranwachsen. Andere Kristalle waren vollkommen dunkel.
„Das hier ist ein Turmalin und die hier sind Bergkristalle, ebenfalls mit Turmalineinschlüssen. Die Tiefen hier sind voll damit“, erklärte der Feind. „Eure Aufgabe ist, uns mehr davon aus dem Stein zu holen.“
„W-Wozu?“, hauchte Anna, aber darauf erhielten sie keine Antwort.
Less wusste wenig über Magie und Edelsteine. Aber er hatte eine dunkle Hexe gekannt, in deren Schatten eine Gottheit lebte. Ihm war die Bedeutung von Turmalinen klar und schwer wie ein Stein im Magen war die Anweisung, mehr davon an die Oberfläche zu bringen.
Miller, naiv wie er war, berührte einen der Kristalle und japste auf einmal auf, wurde panisch. Anna wurde daraufhin ebenfalls nervös und klammerte sich an Less, beteuerte wieder, wie leid es ihr tat. Less spürte ganz leise, lauernd, auch in sich Panik aufkommen.
Es brachte alles nichts. Sie wurden getrennt und Less wurde in ein Loch geworfen, ein paar einfache Werkzeuge hinterher. Er schnappte sich diese und rannte, aber natürlich stolperte er sofort, riss sich die Ellbogen und ein Knie auf, rannte wieder, bis er die Sackgasse erreichte und in der Dunkelheit zusammenbrach. Die dunklen Kristalle waren überall. Sie stachen in seine Haut und Less konnte sie wispern hören, hörte die Erde grollen und die Schemen nach ihm greifen. Darum waren sie also hier. Less wusste wenig über Magie. Aber er kannte die Tiefen, kannte Fortunas verseuchten Boden, kannte Tefhel. Ira hatte gesagt, sie würde Schemen auf seinem Grab tanzen lassen und hier war er nun. Unter der Erde, umringt von kristallisierter Schwarzmagie. Er war alleine, konnte niemandem vertrauen. Er musste fort. Er musste fliehen. Er ganz alleine.