Anna hatte sich bereits zu Bernd gesetzt. Dieser wartete mit Wasser und Brei auf sie. Er schien an ihnen Gefallen gefunden zu haben. Less konnte das nicht nachvollziehen. Bernds Fragen waren anstrengend, aber auch er hatte eine gewisse Autorität unter den Gefangenen und durch seine Akzeptanz wurde Less mit seinem verlausten Aussehen weniger schief beäugt. Also musste er es heute noch einmal aushalten.
„Wo habt ihr meine Belle gelassen, Mittelländer?“, begann seine Fragerei, noch ehe Less sich neben ihn in den Dreck hatte setzen können.
„Jemand ist zusammengebrochen und sie ist hm … helfen gegangen. Sie kommt gleich“, erklärte Anna, deren Westen bereits sicherer klang.
„H-Hallo. Danke und g-guten Appetit“, wünschte Miller nur, denn er hatte trotz der Hilfe seines Sudelkissens keine sprachlichen Fortschritte gemacht.
„Lisa ist nicht hier, aber dafür ich wieder einmal“, verkündete dieses auch gleich als nächstes und nahm sich eine Schüssel, die definitiv nicht für seine Finger gedacht war.
„Pha, die Verführerin! Du solltest die nicht so an dir kleben lassen, junger Bursche. Das macht dich irgendwann noch schwächer als die Arbeit im verfluchten Stollen“, schnaufte Bernd, als hätte Miller tatsächlich etwas davon verstanden.
„Verführerin? Davon träumst du doch Abends, alter Mann“, feixte Zeckora und rutschte aus Prinzip näher an den bereits wieder passiven Darken. Erst als Anna sich auffällig laut räusperte, ging er wieder etwas auf Abstand.
„Ihr mögt Glück gehabt haben und noch nie eine Seraei ohne Bann getroffen haben“, schätzte Bernd und zielte mit dem Löffel auf sie alle. „Mit Glück werdet ihr auch diese Verführerin nie ohne sehen. Die Seraein verstecken sich hinter schönen Gesichtern. Sie klauen Kinder, bereits vorhandene wie auch künftige direkt aus euren Körpern hinaus. Töten kann man sie nur endgültig, wenn sie ihr wahres, abscheuliches Inneres, den Dämon, zeigen. Und sieht man den, ist es doch schon grausig zu spät für einen.“
Less schaute zu dem Beschuldigten, erwartete wieder eine versucht schlaue Antwort. Zeckora aber schwieg, starrte nur. Zuletzt streckte die Seraei eine Hand nach Miller aus, hielt aber noch in der Bewegung inne und kauerte sich stattdessen über ihr Essen.
„S-Seid doch … nett alle. Ich will es nur nett haben“, murmelte Miller an ihrer Stelle.
„Wir das etwa bei euch oben in Friedbach gepredigt? Zwischen all den Drakar und sonstigen Synten?!“, höhnte Anna, winkte dann ab.
„Ha. Der Frieden ging dank denen fett den Bach runter“, brummte Less.
Friedbach seufzte, rutschte im stillen Protest nun selbst näher zu der Verführerin. Less hielt ihn nicht auf, trotz Bernds Warnung, die er nicht hatte verstehen können.
„Geht für euch Jungen nachher wieder runter, Err. Ha?“, wechselte Bernd das Thema.
Less grunzte. Er hatte sich eigentlich entschieden, nicht weiter zu reagieren, wenn er mit seinem Zweitnamen angesprochen wurde. So was war lächerlich, erst recht in seinem Fall, egal wie oft Bernd noch erzählte, dass nur besonders stolze und schöne Kinder einen erhielten. Aber nun, da sonst alle bitter-traurig und armselig schwiegen, war Less viel zu alleine mit seinen eigenen Gedanken, die ihm noch weniger gefielen.
„Vermisse nicht, dass sie mich nicht mehr hinlassen, den Schmutz der falschen Götter aus dem Stein zu kratzen“, kommentierte Bernd.
„Wozu brauchen die all diese … Also ich weiss schon, wozu man verschiedene Edelsteine sonst braucht. Aber so viele?“, fragte Anna.
„Wo viel Böses geschah, drängen sich die Schemen so dicht aus Tarveas düsteren Ebenen hinauf nach Vvasta, dass sie zu Turmalin werden. Wir müssen diese Magie nun für den Kriegszug des Heerführers aus der Tiefe holen“, erklärte Bernd.
„Er schiebt sie seinen Feinden einzeln in Arsch“, ergänzte Less.
Ob Anna es glaubte oder nicht, war unklar. So oder so schauderte sie und verzog angewidert das Gesicht. Zeckora hingegen gluckste leise. Sein Lächeln kam Less nun gar nicht mehr harmlos vor, nicht einmal frech. Selbst mit dem Bann schien die Luft um ihn herum etwas zu glühen, leicht zu flimmern. War gar nicht so kühl wie sonst.
„Ihr wisst alle so wenig über den Heerführer und die Götter. Über Magie im Allgemeinen. Es ist gleich tragisch wie lächerlich.“
Less beugte sich vor, erwiderte Zeckoras Lächeln mit einem eigenen.
„Wie alt warst du Wicht erst gerade noch?“
„Das spielt keine Rolle. Ihr seid alle einfältig, schwach und ignorant. Ich bin eine Seraei, eine mächtige Zeitlose. Selbst wenn ihr und dieser Ort längst zu Staub erodiert seid, werde ich noch existieren. Die Schemen werden eure Gräber tilgen, aber meine Mutter wird mich hier wegholen und ich werde nicht einmal eine Erinnerung an euch aufbewahren.“
Less verstand nicht, wieso ihn Zeckora, dieser gebannte und machtlose Wicht, mit diesen leeren Worten so packen konnte. Weshalb ihm auf einmal so übel war und sich seine Innereien zu einem Knoten schlangen. Er war gefangen. Er konnte nicht rennen. Er schabte seine Schale direkt mit den Fingern aus, beugte sich vor und schmierte seinen Rest Brei Zeckora ins Gesicht. Das beruhigte ihn etwas, liess seinen Kopf weniger pochen. Wie erwartet war die Seraei nicht mächtig genug, ihn daran zu hindern. Sie konnte gar nichts tun. Nur quietschen und sich hinter Pazifisten-Friedbach verkriechen, als hätte der mehr erreicht. Bernd lachte und Less lachte mit. Vielleicht kicherte sogar Anna etwas, zumindest bis Lisa vor ihnen stand. Die Strenge in ihrer Stimme liess sofort alle verstummen:
„Was treibt ihr Scheisser für Unsinn.“
Sie klang noch ernster, noch bitterer als sonst und diesmal war Less derjenige, der den Kopf etwas einzog. Lisa hatte keine Frage gestellt und sie benötigte auch keine Antwort, um zu erkennen, was sie verpasst hatte.
„Belle, war es schlimm? Wie steht es?“, fragte Bernd, aber sie winkte ab und schnalzte dabei mit der Zunge.
„Hat wieder jemand den Preis Tefhels bezahlt. Ich konnte Cena aber davon überzeugen, sie vorerst von weiteren Schichten zu verschonen. Aber darüber will ich gar nicht reden. Ich will … Ne, ich erlaube nicht, dass ihr euch hier gegenseitig zu Lurchen an der Sonne macht!“
Sie kniete sich zu Zeckora und schaute sein Gesicht an. Strich ihm eine letzte Spur Brei aus dem Haar und fuhr einer Peitsche gleich herum, als ihr Onkel das Wort wieder ergriff.
„Belle, sei nicht so. Sie ist –“
„– ein Kind, Bernd, das unter den gleichen Umständen und der gleichen Leute wegen wie wir hier landete! Wenn wir uns streiten, dann sind es am Ende nur unsere Feinde, die lachen.“
„Ich bin kein Kind mehr“, murmelte Zeckora.
Bern sah zur Seite, spuckte in den Sand.
„Erzähl das den anderen, Lisa. Wir also schätzen alle deinen Einsatz, aber bei einigen werden langsam trotzdem auch Stimmen laut.“
„Dann sollen sie reden. Alles, was ich bisher gemacht habe, habe ich für die Gefangenen gemacht. Unsere Leute wie auch die, die nicht unser sind, aber unser Leid teilen.“
Lisa erhob sich, schien weder hungrig genug noch in Stimmung, um bei ihnen zu verweilen. Less hatte ihr erst nicht getraut. Er hatte sie keine echte Grick genannt. Gänzlich trauen konnte er ihr selbst jetzt nicht. Aber er hatte ihr Unrecht getan. Sie war eine Gefangene. Aber nicht, weil sie schwach war. Ihre Freundlichkeit den Dämonen gegenüber war kein Verrat, kein Aufgeben. Es war das beste, was sie tun konnte, um ihre eigenen Risiken und Chancen in Balance zu halten.
Als Lisa sich entfernte, erhob er sich eilig, leckte noch seine Finger sauber und eilte ihr nach.
„Lisa, können wir kurz … möglichst alleine?“, flüsterte er, sobald er sie eingeholt hatte.
„Was willst du, Less?“, schnaufte sie und ihr dunkles Haar schlug gegen sein Gesicht, als sie sich erneut abweisend von ihm abwandte. Sie lief in eine Ecke und er folgte. Sie schickte ihn nicht weg. Aber sie schaute die Ecke an, als wäre es eine Erniedrigung für sie, ihn direkt anzublicken. Less war sich solche Dinge gewohnt, solche Spiele. Aber schön war es nicht.
„Ich weiss, wir hatten keinen guten Start. Ich habe törichte Worte verwendet, ihr wart etwas zu neugierig … Aber ich habe in den letzten Tagen gesehen, dass du wichtig bist. Du bist nicht nur eine Grick, zu dir sehen die Leute auf. Ich kann nicht hier bleiben und du kannst es auch nicht. Dafür bist du zu wichtig.“
Lisa gab ein Geräusch von sich, vielleicht ein Lachen, vielleicht nur ein Ächzen.
„Du unterschätzt das alles. Du warst bei den Darken am Trinken, aber ich und die anderen … wir waren hier. Wir haben uns nicht dem Feind anschliessen wollen und gewehrt. Schau, wo es uns hingeführt hat. Du hast keine Ahnung, was hier alles geschieht.“
„Was, Ahnung? Ich kann nicht herumsitzen und darauf warten, dass mir wer zeigen kommt, was alles noch so geschieht!“
Er fasste Lisa an die Schulter und zerrte an ihr, so dass sie ihn doch noch anschauen mochte. Lisa tat das dann auch, kam sogar näher, bis Less ihren warmen Atem an seinem Kinn spüren konnte.
„Du bist ein Narr, Less Err Leather. Wenn du und die Darken fliehen wollt, dann tut das von mir aus, bitte. Tut es und nehmt alle mit, die folgen wollen. Ich werde Cena für euch ablenken, wenn das euch eine Hilfe sein sollte. Aber ich komme nicht mit, falls du das mit deinen schwachen Schmeicheleien bewirken wolltest.“
„Pfs! Gut. Wie du willst. Deine verpasste Chance“, knirschte Less. Er war der erste, der Abstand nahm. „Aber … eine Ablenkung wäre in der Tat hilfreich. Danke.“
„Viel Glück. Ihr werdet es brauchen“, sagte Lisa leise, nicht mehr bitter.