Sie trennten sich und es dauerte nicht mehr lange, bis alle aufgescheucht wurden. Einige zu ihren Zellen, einige in die Stollen, einige an Orte in Tefhel, die Less gar nicht erst kennenlernen wollte. Less sah Lisa kurz wieder, als sie an einem der Tore mit der Lederschnauze redete, dann mit ihr und zwei anderen verschwand. Anna und Friedbach blieben nahe bei ihm. Bernd verabschiedete sich mit einem Grinsen, das so schief war, es hätte irgendwas oder auch gar nichts verstecken können. Zeckora lief ihnen ein Stück nach, wurde dann aber von einer Wache abgefangen. So viele Risiken gingen Less durch den Kopf und der Nagel an seinem Bein drückte sich in seine Haut. Aber noch war niemand alarmiert.
Sie betraten den kleinen Materialraum vor den Stollen mit zehn Leuten. Vier anderen Gefangenen und nur drei Wachen. Sie hatten sich bisher alle artig verhalten. Die Feinde waren ahnungslos. Als eine von ihnen sich mit dem Schlüssel über die Werkzeugkiste beugte, nickte Less den Darken zu. Anna krümmte sich und schrie auf. Friedbach stolperte vielleicht mit Absicht, vielleicht auch nur so, schlug dann die Hände über dem Kopf zusammen und stammelte Bruchstücke über die Schemen und Tiefe.
Die Feinde waren sofort abgelenkt. Less zog seine improvisierte Waffe und sprang einen von hinten an, ehe er reagieren konnte. Er hielt ihm drohend den Nagel an den Hals. Anna rammte die Wache, die ihr besonders nahe gekommen war, eilte zu der dritten, um ihr die Werkzeuge abzunehmen. Die anderen Gefangenen waren erst genauso verwirrt wie die Feinde, dann aber verstanden sie das Spiel und griffen ein. Einer schnappte sich einen Hammer, schlug dem Feind damit gegen den Arm, als er ein Messer zücken wollte.
„Wir verschwinden. Ihr könnt kommen oder bleiben, das ist euch überlassen“, informierte Less die anderen.
Er warf kurz einen Blick auf den Gegner in seinem Griff. Dieser atmete schwer, völlig überfordert. Less zögerte, schaute auf den Nagel in der Hand, dessen Spitze den Feind am Hals kratzte. Er stach nicht zu. Stattdessen zerrte er die Wache zu einem besonders tiefen Stollen und warf sie in das Loch, ähnlich wie man ihn an seinem ersten Tag runtergeworfen hatte. Sollen die Schemen sich darum kümmern.
„Was jetzt?“, japste Anna, nachdem auch die zwei anderen Wachen auf diese Weise aus dem Weg geräumt und alle mit den bestmöglichen Waffen ausgerüstet waren. Alle, die tatsächlich folgen würden. Zwei der Fremden schienen zögerlich, hielten Abstand.
„Jetzt rennen wir. Nicht zum Haupttor. Zu den Küchen. Das Plateau dahinter ist steil, aber wenig bewacht. Da kommen wir runter.“
Less hatte den Grundriss genau im Kopf. Die Dämonen hatten seit ihrer Besetzung Dinge verändert. Hatten alte Schlösser mit neuen ausgetauscht, Türen da hingemacht, wo alles längst weggekommen war, diese verdammten Wege nach Tarvea in den Stein gehöhlt. Aber das war ihr Weg hinaus.
Sie eilten bis zur Wendeltreppe, hielten an deren Ende, um zu lauschen. Es war ruhig. Less eilte zügig weiter, stoppte nur kurz an jeder Ecke, kontrollierte nur an jeder zweiten, ob die anderen ihm noch folgen konnten. Seine nackten Füsse schmerzten, holten sich Schürfwunden, als er kurz strauchelte. Beinahe liefen sie in eine andere Gruppe von Gefangenen hinein, die an ihrer Stelle in den Innenhof geführt wurden. Less konnte sie nicht mit einbeziehen. Die Wachen vor und hinter ihnen waren zu gut ausgerüstet. Zu viel Risiko. Sie warteten, denn noch hatte niemand Alarm geschlagen. In Less kam ein ungutes Gefühl auf und trotzdem führte er sie weiter.
Da war der Gang zur Küche. Less roch das Essen, das richtige, frische Essen, das ihnen allen verwehrt wurde, schon von Weitem. Er nickte den anderen zu, den Darken und den zweien, die ihnen tatsächlich gefolgt waren. Sie stürmten die Küche, ihre improvisierten Waffen fest in den Fingern … und rannten beinahe in die Wand aus Speerspitzen, die sie dahinter auf dem Plateau, vor ihrer Freiheit, erwartete.
„Wohin. Wohin, Nichtschen? Lithrilka?“, spottete die Lederschnauze, die sich hinter einem dieser Speere befand. Darum also war es auf den Gängen ruhig gewesen. Darum so wenig Wachen. Less’ Atem versagte. Aber das konnte nicht sein. Er hatte niemandem gesagt, dass sie nicht auf der offensichtlichen Route über das Tor fliehen würden. Er hatte es doch niemandem gesagt? Irgendjemandem hatte er es gesagt. denn die Feinde wussten es, hatten auf sie gewartet. Er hatte seine Waffe in der Hand, aber die zwei hinten liessen ihre fallen, wichen zurück. Anna rührte sich nicht und Friedbach begann zu wimmern und zittern, brach diesmal tatsächlich zusammen.
„Los. Los!“
Die Wachen packten sie alle. Niemand wehrte sich, nicht einmal Less. Er konnte nicht gewinnen. Nicht alleine. Selbst wenn er bis zum Ende des Plateau kam … er würde stolpern. Er würde in die Tiefe stürzen.
Auf einmal fand er sich in dem Raum wieder, in dem er damals vor so langer Zeit und doch erst so wenigen Tagen erwacht war, die verfluchte Echse mit der Maske zum ersten Mal gesehen hatte. Auch jetzt war sie da, stand über ihm und kratzte ihm mit einem langen, dünnen Messer über die Wange. Less erinnerte sich nicht, wie er hergekommen war, aber da sein ganzer Körper schmerzte und pochte, konnte er sich die Umstände zusammenreimen. Er und die Echse waren alleine, aber das half ihm wenig, denn seine Hände waren einmal mehr hinter dem Rücken gefesselt.
„Nichtschen. Lithrilka. Narr. Narr, Narr“, zischte Lederschnauze einzelne Worte, sprach dann längere Sätze in einer Sprache, die Less nicht verstand. Schnaubte ihm feucht ins Gesicht und hielt das Messer immer noch so nahe, bereit zum Einsatz.
„Waaarnung. Waarnung“, hauchte die Echse und hob eine Kralle, dann die zweite, tippte mit dem Messer gegen Less’ Kinn. Sie hob dann die dritte Kralle, sagte nichts mehr dazu, aber Less verstand diesmal, was sie meinte.
„Lithrilka. Leather. Nichtschen. Verrat. Ich … schaue. Ich rieche. Wache.“
„Beim nächsten Mal werde ich dich töten, Lederschnauze“, zischte Less, doch seine Drohung hatte keine Wirkung, keinen Inhalt. Es hätte funktionieren können. Es hätte funktionieren müssen. Aber hier war er nun und nichts lief so, wie er es sich gedacht oder gewünscht hatte.
Lederschnauze steckte das Messer weg und kurz darauf wurde Less im Griff zwei anderer Wachen zurück zu seiner Zelle geschleift. Alle Blicke lagen auf ihm und diesmal blickte auch er alle an. Jemand musste ihn verraten haben. Er hatte nicht genug aufgepasst.
Er wurde in sein Loch geworfen. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich zur Seite abdrehen, um nicht mit den Zähnen voran am Stein aufzuschlagen. Er rollte sich auf den Rücken, atmete schwer durch und versuchte zu verstehen. Er hörte Lederschnauze sprechen, mit Lisa. Natürlich sprach er mit Lisa. Hatte sie ihn nicht ablenken wollen?
Als Less irgendwann die Augen wieder öffnen konnte und zur Seite spähte, stand Lisa dort, starrte ihn an. Sie wirkte so mitleidig. So falsch. Weinte sie gerade? Etwas an ihr war anders. Ihr Jaspis, der Anhänger. Die Echse musste ihn ihr abgenommen haben, denn er war nicht mehr an ihrem Hals. Wie eine Strafe beinahe. Seltsam.
Hinter Lisa kauerte Anna. Auch sie musste Prügel abgekommen haben, man sah es ihr gut an, auch wenn sie sich möglichst hinter den eigenen Knien versteckte. Wie seltsam. In der anderen Zelle lehnte Zeckora an den Gitterstäben, mit Bannamulett. Wirkte auch ohne physische Verletzungen erschöpft und neben sich, gar nicht wie jemand, der sich nach einem Verrat auf eine Belohnung hatte freuen können. Das war so seltsam. Friedbach. Der fehlte.
„Wo ist …?“, ächzte Less, kam nur müssig in eine bessere Position. Die Fesseln schnitten in seine Haut und sein Kopf war so langsam, so voller Rauch.
„Sie haben Ron nicht zurückgebracht. Vielleicht haben sie ihn jo getötet, wer weiss“, schniefte Anna, versteckte ihr geschwollenes Gesicht. „Das war eine schlechte Idee, Leather. Das a-alles ist schlecht. Hier kommt man nicht weg. Wir haben das verdient. Wir sind schlecht.“
„Aber … Wir hatten es fast! Wir hätten –! Jemand hat uns verraten!?“
„Niemand hat euch verraten. Der oberste Aufseher ist heute nicht hier und darum waren sie extra vorsichtig“, behauptete Zeckora müde.
„Aber –“
„Less“, unterbrach Lisa unpassend sanft, so traurig. „Cena wusste es schon lange. Er war seit deinem ersten Fluchtversuch misstrauisch. Er wusste, dass ihr etwas plant und bestimmt nicht erst zum Jahresend aufschiebt. Als ich mit ihm reden wollte, war ihm gleich klar, dass etwas nicht stimmt. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Es tut mir leid, aber … ich hatte dich gewarnt. Ich wollte für dich hoffen. An eure Flucht glauben. Aber das hier ist Tefhel.“
Einmal mehr wandte sie sich von ihm ab. Sie wandten sich alle von ihm ab. Less wollte es nicht glauben. Konnte es nicht glauben. Er lag da, mit gefesselten Händen. Versank in der Stille. Es wurde später und später, wurde Nacht. Die Wachen kamen nicht noch einmal. Ron blieb verschwunden.