Der erste Tag seiner Strafe traf Less unerwartet. Er hatte lange nicht einschlafen können. War von einem Gefühl ergriffen gewesen, als versinke er tief in der Erde. Wurde von den Schemen in Tarveas kalte Abgründe gezogen. So tief unten, dass er keine Luft übrig hatte. Alles flimmerte. Dann zuckte er zusammen und die kantige, trockene Zelle um ihn herum kehrte zurück. Er war eingesperrt. Eingeengt. Seine Hände waren immer noch hinter seinem Rücken gefesselt und selbst als er endlich schaffte, sich auf den Bauch zu rollen und mit dem Gesicht auf dem rauen Sandstein lag, blieben seine Arme taub. Er wusste nicht, wann die Erschöpfung ihn endgültig in ihren Schoss zog. Erwachen tat er aber erst, als der Lärm der Wachen vor der Mittagspause ihren Zellenblock erreichte. Die Schläge mit stählernen Waffen gegen Eisenstangen. Die harschen Worte und die ebenso unschönen Antworten.
Less hustete. Sein Körper war wie ein Ameisennest und drohte auseinanderzufallen, als er ihn auf die Knie zwang. Er sah sich nach seinem Becher Wasser um, fand ihn aber nicht. Die Wachen hatten bereits Lisas Zelle erreicht und liessen sie und Anna heraus. Less kam auf die Beine. Er schwankte, lehnte sich dann vor seiner Tür an die Wand. Die Wache mit dem Schlüssel lief weiter, schaute ihn nicht an. Als wäre er nicht da. Less wollte nach ihr rufen, aber seiner Kehle entwich nur ein heiseres Krächzen. Er strauchelte und knallte gegen die Eisenstangen. Lisa auf dem Gang schaute kurz zu ihm, aber dann wandte auch sie ihren Blick ab. Sie legte ihren Arm auf Annas Schultern und zog sie mit, weg aus dem Block. Less hustete wieder, fluchte dann und sank zurück auf den Boden. Niemand würde für ihn kommen.
„Wenn du dich artig anstellst, nehmen sie dir nach drei Tagen die Fesseln vielleicht wieder ab“, sagte der Sudel-Dämon auf der anderen Seite.
Less spähte in seine Richtung. Er kauerte in der Ecke an der Wand hinter Lisas Zelle, weswegen Less nicht mehr als seine Füsse und Beine ins Sichtfeld kriegte.
„Was machst du hier, Nichtsnutz? Keine Lust auf ein fürstliches Mittagessen mit deinem obersten Aufseher?“
Der Nichtsnutz schwieg wieder lange.
„Wie schon gesagt. Er ist nicht da“, wisperte er zuletzt. „Bin müde und … so kalt.“
Less spürte erneut Ameisen unter seiner Haut krabbeln.
„Was haben sie mit Friedbach gemacht? Er kann nicht tot sein. Er kann nicht …! Scheiss die Wand und mich an, er war der Verräter!“
Er sagte das, aber glauben tat er nicht daran. Es hatte nichts gegeben, was dieser lausige Darke gut beherrschte. Überzeugendes Schauspiel und Lügen war das letzte, was so einem von der Zunge gegangen wäre.
Der Sudel-Dämon gluckste.
„Ron hatte mir letzte Nacht gesagt, er würde Tefhel entkommen. Es würde gelingen, weil du es durchgeplant hast. Du als Ritter. Er würde entkommen und dann … dann würde er einen Weg finden, den Bann auf mir zu lösen und mich holen. Er hat dir trotz all deiner grässlichen Worte vertraut und selbst jetzt suchst du noch die Schuld bei ihm und allen ausser dir selbst. Näh, wer auch immer deinen Fluch ausgesprochen hat, war recht damit, dich wie ein Kobold aussehen zu lassen.“
Die Ameisen kratzten, bissen. Füllten seinen Kopf und verspeisten ihn von den Zehen herauf. Less kauerte sich zusammen und versuchte die Zelle auszublenden.
„D-Das stimmt nicht! Das stimmt nicht. Ich bin kein Lügner. Ich b-bin … kein Narr. Seit wann höre ich auf Dämonen? Auf eine Verführerin?! Sie ist eine Hexe. S-Sie ist schuld.“
Keine Antwort kam mehr aus der anderen Zelle.
Irgendwann kehrte der Lärm zurück und mit ihm auch Anna und Lisa. Less bemerkte es erst, als sie bereits da standen. Anna befand sich nahe der Gitterstäbe. So nahe. Less sprang auf und stolperte zu ihr.
„Anna! Anna, h-hör mir zu!“, hauchte er.
Sie schaute nur flüchtig über die Schulter, zuckte etwas zusammen.
„Nicht jetzt, Leather. Nicht jetzt.“
„Anna! A-Anna, bi–“
Er brachte den Satz nicht zu Ende, die Luft war so trocken. Dann war sie schon zurück auf ihrer Seite des Zellenblocks und schaute kein einziges Mal zu ihm. Sie setzte sich mit Lisa hinten hin, von ihm abgewandt. Sie redeten leise miteinander und Less verstand kein Wort, obwohl seine verfluchten Koboldohren ihn sonst vor keinem Geräusch verschonten. Er blinzelte, schaute zu den anderen Zellen und den Wachen. Ihm fiel auf einmal schwer sich richtig zu konzentrieren.
„Ihr könnt mich nicht auf einmal i-ih-ignorieren! Verdammt, ich hab mich verschätzt, ja?! Aber ich … hab es wenigstens versucht! Ich habe a-alles versucht! Es war … nur nie genug.“
Schon nur aufrecht zu stehen wurde ihm bald zu viel. Sein eigener Körper verriet ihn. Seine Schultern waren taub. Sein Atem war schwer. Von seinen Füssen tropfte schwarzer Schleim und versuchte den letzten Funken in ihm zu erlöschen.
Der zweite Tag kam unangekündigt. Less war sich nicht sicher, wo und seit wann er war. Lisa befand sich direkt vor ihm, war ausserhalb ihrer Zelle. Sie hielt einen Becher an seine Lippen. Kühles, salziges Wasser. Less verschluckte sich und hustete, würgte. Er kippte beinahe zur Seite weg, aber sie hielt ihn fest, steckte beide Arme in seine Zelle und zog ihn nahe an das Eisen. Sie blieb, bis der Becher leer war. Dann brachte sie einen zweiten und diesmal konnte Less das Wasser selbstständiger trinken. Bald fiel er in einen Zustand abseits von Schlaf und Wachsein. Alles war dunkel, dämmerte davon, aber die Insekten in seinem Körper wurden leiser. Er hörte den Lärm der Mittagsschicht und wieder liess man ihn in der Zelle.
Die nächsten Tage der Strafe gingen quälend langsam voran. Endlich wurden ihm die Handschellen abgenommen. Seine Arme fühlten sich wie altes, morsches Holz und seine Muskeln schienen zu zerreissen. Als er auf seine Finger hinabschaute, schienen sie einem anderen zu gehören. Endlich gaben ihm die Wachen wieder eigene Wasserrationen. Aber sie liessen ihn nicht aus der Zelle. Nicht am Mittag für das Essen im Hof, nicht für die Arbeit in den Minen, nicht für das wöchentliche Waschen. Er blieb ein Gefangener, eingesperrt in diesem engen Loch und er konnte nicht sagen, was ihn mehr zerstörte: Der Hunger, die Isolation oder sein eigener Kopf.
Am siebten Tag redeten die anderen endlich wieder mit ihm, behandelten ihn nicht mehr wie einen Geist. Es war nicht viel, aber es machte die Zeit geringfügig ertragbarer. Less erwischte sich nicht mehr so oft dabei, wie er sich Stellen seines Schweifs blutig kratzte, manchmal sogar mit seinen Zähnen daran herumkaute, die doch eigentlich genauso wenig Teil von ihm waren wie ebenjener Schweif. Er erinnerte sich aber nicht daran, was die anderen ihm erzählten. Hatte selbst keine Antworten bereit. Anna schaffte es am achten Tag eine Scheibe Brot in die Zelle zu schmuggeln und als die Wachen gegangen waren, warf sie diese zu Less rüber. Less kam sich vor wie ein wildes Tier. Eine Abscheulichkeit. Nicht echt. Dennoch nahm er das Essen und bedankte sich dafür. Er ass es langsam, über den ganzen Abend verteilt, und trotzdem schmerzte sein Bauch am nächsten Morgen.
Zehn ganze Tage dauerte seine Strafe. Less hatte nicht mitgezählt, aber die Wache war so nett und sagte es ihm, als sie am elften Tag auf einmal vor seiner Zelle stand und mit dem Schlüssel spielte. Less war so schwach auf den Füssen, er schämte sich sie überhaupt zu benutzen. Als die Wache wollte, dass er seine Hände ausstreckte, um sie diesmal vor seinem Körper in Schellen zu legen, tat er das ohne Widerspruch. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Es gab kein Entkommen. Er hatte es nicht verdient, hier wegzukommen.