„Du darfst dich glücklich schätzen, Koboldarsch. Cena wollte dich direkt von der Klippe runter und in den Dreckgraben werfen. Aber Lisa hat gut auf ihn einreden können und ich habe ihr Anliegen unterstützt“, sprach die Wache.
Sie hielt ihn fest an der Schulter und leitete ihn den Gang entlang raus aus dem Zellenblock. Sie war eine der wenigen Personen hier, die Mittländisch sprachen. Less wusste nicht, wo der Feind den Mann aufgeschnappt hatte. Wusste nicht, ob er ein Mensch, ein Dämon oder sonst ein Wesen war. Vielleicht war er tatsächlich einfach ein Darke. So wie er als Vimmer nach Darkeen gegangen und Ritter geworden war, gab es bestimmt auch Darken, die das Hügelland verlassen hatten und sich gerne einem Heerführer für einen Dienst in einem Gefangenenlager zu Verfügung gestellt hatten.
„Du warst sehr artig während der letzten zehn Tage. Viel andere Möglichkeiten blieben dir natürlich nicht, aber einige hatten darauf gewettet, dass du dich eher noch in eine Ratte verwandeln und durch den Abort kriechen würdest, als tatsächlich ruhig zu bleiben. Leider kannst du in dem Zustand nicht wieder zu den Kristallen geschickt werden. Also wasch dich erst einmal und dann darfst auch du zurück in den Hof.“
Sie erreichten den Waschraum, dessen strenger Kräutergeruch die restlichen Aromen nur zu Teilen übertünchen konnte und dadurch mehr noch ergänzte, so dass Less einen Würgereflex unterdrücken musste. Sein leerer Magen war ein Knoten. Niemand sonst war an diesem Morgen anwesend. Die Wache stiess Less zu einer Nische mit einem kleinen Waschtrog, etwas Seife und einem Lappen.
„Es wär wahrscheinlich auch an der Zeit, deine Kleidung etwas einzuweichen. Wer weiss, was darin schon herumkriecht. Ich kann das gerne für dich arrangieren, aber dann muss ich dir die Handschellen wieder abnehmen und dich sogar kurz alleine lassen. Bei einem wie dir könnte das gefährlich sein, aber weisst du was? Ich glaube, du wirst heute artig sein.“
Less stellte sich kurz vor, wie er aus Prinzip nun etwas anstellte. Aber der Mann hatte recht. Er konnte kein weiteres Risiko eingehen. Er war schwach. Einer von ihnen war bereits nicht mehr zurückgekehrt und beim nächsten Mal würde es Less treffen. Er war unsicher, ob das vielleicht ein besseres Schicksal wäre als dieses hier.
Er schaute die Wache nicht an, als sie ihm erst die Fesseln und dann seine Kleidung abnahm. Er schaute auch nicht hin, als sie einen Kommentar darüber machte, wie gerne sie ihm ein Messer da lassen und schauen würde, was er damit anstellte. Ob er artig sein Gesicht von den kratzigen Bartstoppeln befreien oder was ganz anderes versuchen würde. Less hätte es ihm nicht sagen können. Als sie weg war, setze er sich hin und verblieb eine ganze Weile so, starrte nur und wartete darauf, dass die Insekten in ihm still wurden. Dann wusch er sich so gründlich wie möglich, kühlte seine pochende Haut. Begann zu akzeptieren, dass er alles verloren hatte.
„Sie einer an. Der Kobold sieht fast wieder wie ein Mensch aus und das Messer bei der Tür hat er nicht einmal angefasst“, höhnte die Wache.
Less hatte sie nicht reinkommen hören. Er wusste nicht, wie lange sie weggewesen war. Hatte das angebliche Messer beim Ausgang nicht bemerkt. Nicht die Energie gehabt, noch einmal über eine Flucht nachzudenken.
„Niemand hier weiss, wie lange das hier alles weitergehen und wo es überhaupt hinführen soll mit all den Toten und den Experimenten“, sprach der Mann weiter und baute sich vor der Nische und dem Trog auf. „Aber es gibt Wege, es sich hier ganz erträglich zu gestalten. Deine Freundinnen im Zellenblock haben dir das sicher schon erzählt. Du kannst besonders nett zu mir sein und dann kann auch ich so einiges für dich bewirken.“
Für einen Moment stellte Less es sich wieder vor. Es wäre so einfach gewesen. Wenn er eins von den Darken gelernt hatte, dann dass er in ihren Augen nichts wert war und vor ihnen zu kauern hatte.
„Das e-einzige, was einer wie du für mich bewirken kann, ist … mich doch noch von der Klippe zu werfen. Dich selbst dann direkt hinterher.“
Die Wache schaute ihn an und schnaufte.
„Anscheinend hatte die Echse doch mal recht mit was.“
Less drückte sich an ihr vorbei. Die Wache griff nach seiner Schulter. Less fauchte und bleckte seine Zähne. In Reaktion darauf schlug die Wache ihm ins Gesicht. Less stolperte rückwärts. Er hätte es vielleicht bis zur Tür geschafft. Vielleicht war da sogar ein Messer. Aber was dann?
Die Wache stiess ihn gegen die Wand, schlug ihm diesmal in den Bauch. Less ballte seine Fäuste. Der Wassertrog war nicht sehr tief, aber vielleicht hätte es gereicht. Was dann?
Less zitterte. Sein ganzes Leben lang hatte er gekämpft und doch war er hier. Was hätte er getan, wenn er Tefhel entkommen wäre? Wo hätte ihn das hingeführt? Less hatte keinen Plan mehr übrig, keinen Ort, an den er hätte fliehen können. Also liess er es sein.
Die Tür öffnete sich. Jemand kam rein und wechselte ein paar Worte mit der Wache. Die Person warf Less seinen Witz einer Bekleidung zu. Wenig vom Dreck der letzten zehn Tage hatte sich tatsächlich gelöst. Diesmal wurden ihm keine Fesseln angezogen, diesmal brachten ihn die Wachen auch nicht in die Zelle. Less ertrug die Sonnenstrahlen kaum, die ihn so giftig fröhlich stachen, als er in den Hof gestossen wurde. Fortunas Ödland wirkte noch unfreundlicher und fremder als sonst.
„Ha, Err! Sie haben dich tatsächlich wieder rausgelassen!“, grüsste ihn Bernd mit einem freudigen Grinsen, als Less sich auf den gewohnten rauen Flecken setzte. „Grausig siehst du aus. Musst am Verhungern sein. Hier, iss! Lisa konnte uns eine zusätzliche Portion Brei besorgen, du musst also nicht schüchtern sein.“
Less nahm die Schüssel entgegen, die Bernd ihm zuschob, und hielt sie. Trotz des Stechen in seinem Magen war ihm nicht danach. Ihm war nach gar nichts.
„Also es mag sich nicht so angehört haben, Leather, aber ähm ich bin schon froh, dass deine Strafe zu Ende ist“, mischte sich Anna ein. Im Gegensatz zu Bernd schaute sie ihn nicht an dabei. „Sie haben mich immer doppelt so lange da unten arbeiten lassen. Ich weiss nicht, wie lange ich das noch hingekriegt hätte.“
Lisa sass nahe neben ihr. Ihr Blick aber lag aber auf ihm und Less konnte ihm nur kurz standhalten, ehe er lieber wieder seinen unberührten Brei anglotzte.
„Es war nicht mein Ziel, dir … überhaupt wem Schwierigkeiten zu bereiten. Es tut mir leid, dass ich euch nicht helfen konnte. Es tut mir leid, dass ich … geglaubt habe, e-es zu können“, sagte er leise.
„Less –“, begann Lisa nach einem Moment des Zögerns und streckte ihre Hand nach ihm aus, aber Less schüttelte seinen Kopf.
„Ich verstehe, dass ihr … Abstand gehalten habt. Das ist Tefhel. Hier kommt man nicht raus.“
„Aber manchmal, manchmal kommt etwas rein!“, rief ausgerechnet das Sudelkissen und drängte sich zwischen ihn und Lisa in den kleinen Kreis.
„Was wird das?“, fragte Bernd.
Die Frage, gemeinsam mit dem neuen, viel zu süssen Geruch liess Less wieder aufschauen. Der Sudel-Dämon wirkte viel zu zufrieden mit sich selbst. Als hätte er vergessen, an was für einem Ort sie sich befanden. Seine grossen Augen wirkten im direkten Licht gar nicht blau und glühend, sondern rosa. So hell. Er trug einen Korb in den Armen. Im Korb befanden sich drei Pfirsiche, mehrere Mispeln und ein kleiner Zweig roter Trauben.
„Heute ist der erste Tag des neuen Jahres! Wir haben Jahresend und den langen Winter hinter uns gelassen“, verkündete er, „und begrüssen den Frühfrühling! Der erste Tag des Frühlings ist für viele ein Tag zum Feiern und zum Beten und sein Verlauf entscheidet darüber, wie das Jahr verlaufen wird. Bekannt als Frühlingstaufe im hohen Norden, Sonnenfang bei den Elfen und da wo ich herkomme Fischgruss genannt. Viele der eigentlichen Bräuche können wir an diesem Ort nicht durchführen, aber gerne grüsse ich euch und teile mein bestes Essen.“
„Woher hast du das?“, fragte Lisa.
„Ja, woher? Diese Früchte kann man nicht vor dem Spätsommer … ernten? Und wenn man sie von … besonderen Leuten kriegt, sind sie teuer?“, ächzte Anna.
„Verführerin! Sind bestimmt vergiftet“, behauptete Bernd.
„Jupp, definitiv, immer, sowieso. Eine Göttin schwebte einer Feder gleich aus ihrem hellen Reich herab und überreichte sie mir“, antwortete die Verführerin und legte den Korb in die Mitte des Kreises. Als sie dabei Less streifte, war ihm, als wäre ihre Haut Eis. „Der oberste Aufseher hat sie mir geschenkt. Nehm sie oder verschmäht sie. Ich wollte nur freundlich sein.“