Anna griff nach einer Mispel. Als niemand sie aufhielt und dann ausgerechnet Bernd einen der Pfirsiche und den halben Traubenzweig an sich nahm, pflückte auch sie zusätzlich Trauben und zwei Mispeln mehr aus dem Korb. Less schaute auf seinen Brei hinunter und wusste, dass er nicht wieder so eine Gelegenheit haben würde. Er nahm einen Pfirsich und wog ihn anstelle der Schüssel in seinen Fingern.
„Ich will deine Geste schätzen, Zeckora. Aber ich kann nichts davon annehmen“, sagte Lisa.
„Wieso?“, fragte der Sudel-Dämon und klang ehrlich entrüstet. „Du hast das mehr als die anderen verdient und solltest auch gesünder als sie essen!“
„Ha? Sollte ich?“, schnellte Lisa zurück. „Ich bleibe dabei.“
„Ich würde sie nehmen, hättest du sie gebracht!“
„Das ist etwas anderes.“
„Lisa Belle …“, kam müssig von Bernd.
„Du hast hierzu gar nichts zu sagen, Onkel! Dir wär egal, wenn sie morgen tot wär!“
„Boah! Gut. Dein Pech!“, zischte der Sudel-Dämon unterdessen.
Er lehnte sich abermals vor und griff selbst nach dem dritten Pfirsich. Er biss provokativ hinein und als er sich dabei umpositionierte, um Lisa besser anschauen zu können, kam er wieder mit Less in Berührung. Die Haut der Verführerin war tatsächlich kühl und Less zuckte zusammen. Er rutschte nach hinten, quetschte versehentlich seine Nägel in den Pfirsich, kniff die Augen zusammen.
Lisa nannte ihn wieder beim Namen, aber Less hörte den Rest ihrer Worte nicht. Er blickte zum wolkenlosen Himmel hoch. Die Sonne schien, der Frühling war da. Aber ihm war kalt. Wenn der heutige Tag den Rest des Jahres bestimmte, dann wollte er das Jahr gar nicht erst kennenlernen. Das konnte nicht seine Zukunft sein. Irgendwann mussten doch alle Turmaline aus dem Stein gekratzt sein. Irgendwann hatte der Heerführer ganz Gahlaria, vielleicht sogar ganz Vvasta unter sich. Dann brauchte er kein Tefhel mehr. Aber Less konnte nicht so lange ein Gefangener sein. Er konnte das alles nicht. Er war schwach.
„Ich … muss hier weg“, ächzte er und kam erst nach dem zweiten Versuch auf die Füsse, weil seine Gliedmassen so wackelten.
„Lass mich dir helfen“, bot die Verführerin an.
Als sie sich erhob, folgte Lisa ihr sofort.
„Ne, Zeckora! Er ist zu schwach für deine Spielchen!“
„Spielchen?! Du sagtest vorhin erst noch –!“
„Vergiss, was ich gesagt habe! Mach … mach gar nichts! Less, komm. Ich bring dich rein. Anna, nimm wenn möglich das Essen mit zu den Zellen. Bernd, pass du auf und …“
Less stellte fest, dass seine Finger feucht waren. Er hielt immer noch den Pfirsich in seiner Hand. Er liess ihn fallen. Lisa trat zu ihm und stützte ihn, hinderte ihn daran, ebenfalls zu fallen. Er verstand nicht, warum ihm auf einmal so übel war, weshalb die Ameisen schon wieder in ihm herumkrabbelten. Er hatte es doch akzeptiert. Hätte es nicht endlich erträglicher werden sollen?
Lisa redete, gebrochen auf Rasa diesmal. Less blinzelte und war wenig erstaunt, als er die grünen Nüstern der Echse vor sich hatte.
„He? Krank, nyo? So schwach“, spottete Lederschnauze.
Less ächzte, als die Echse seine Wange berührte, wo der Schlag der Wache ihn erwischt hatte. Auf einmal fiel ihm auf, dass sie Lisas Jaspis an ihrer Stelle trug.
„Nichtschen. Lithrilka. Wolltest mich töten? So schwach.“
„Lass mich ihn bitte zurück auf die Zelle bringen, wenn du ihm schon keinen Heiler gönnen willst. Cena, bitte“, sprach Lisa.
Lederschnauze sog laut Luft ein, blinzelte tatsächlich sogar zweimal.
„Heiler. Nichtschen“, zischte er dann.
Er wandte sich ab und Lisa folgte ihm in den Gang. Less blieb nichts übrig, als ebenfalls einen Fuss vor den anderen zu setzen.
„Alles tot. Alles ab. Nichts heilt.“
„Lebt er noch?“, fragte Less.
Lisa stockte für einen Moment. Lederschnauze neigte seinen Kopf leicht, schaute dann zurück nach vorne und richtete seine Holzmaske.
„Lebt? Wer noch?“
Less leckte sich über die spröden Lippen. Überlegte. Sein Name wollte ihm nicht einfallen. Er wollte sich daran erinnern, aber es wirkte so fern. Nichtig. Die Ameisen gruben ihre Tunnel.
„Der Junge, der mit der Seraei auf der Zelle war“, erklärte Lisa und begann den Satz noch einmal auf Rasa, aber Lederschnauze unterbrach sie mit einem lauten Schnalzen.
„Seraei. Freund. Tsia? Wer weiss. Nichts.“
„Cena, hast du ihn den Experimenten übergeben?“
Lisas Stimme war auf einmal so leise. Alles war leise. Umso lauter war das Brüllen weiter vorne. Jemand stürzte hinter der Ecke der Abzweigung hervor. Less registrierte es erst, als die Person schon bei ihnen war. Er hörte den dumpfen Schlag, als die Person und Lisa ineinander prallten. Sie war fort und seine Füsse verrieten ihn, liessen ihn ohne Gleichgewicht zurück. Nun lagen sie alle am Boden. Cena fuhr herum und glotze sie an, lauernd. Eine Klaue bereit am langen Messer.
Vor Lisa und Less kniete ein junger Bursche. Less konnte nicht viel von ihm erkennen. Zu angeschwollen war sein Gesicht hinter dem schwarzen, ungekämmten Haar und er hielt auch gar nicht still, sofort war er bei Lisa, hielt sich an ihr fest und flehte sie an, erst auf Rasa, dann sonst eine Sprache und in seiner Hast tatsächlich auch auf Mittländisch. Zumindest glaubte Less, dass es Mittländisch war und er es verstehen musste. Aber der Bursche redete schnell, undeutlich, und in seinen Ohren rauschte es.
Noch eine Gestalt kam von der Abzweigung her. Es war die Wache, die ihn in den Waschraum geschleift hatte. Sie blutete am Hals. Hielt ein Messer, das ebenfalls blutig war.
„Diese kleine Südratte hat mich angegriffen und wollte sich davonmachen!“, brüllte der Mann.
„Bitte! Bitte helft mir! Helft mir!“, bettelte der Bursche.
Less war starr. Ihm war, als wäre alles weit weg. Nur ein Traum. Auch die Lederschnauze war starr. Sie fixierte nicht den flüchtigen Burschen, sondern den Mann. Lisa reagierte zuerst, stand auf einmal zwischen den Fronten. Sie entriss Lederschnauze die Waffe, richtete sie auf den Mann. Ihr ganzer Körper zitterte, aber ihr Griff war fest und ihr Blick auf einmal so entschlossen.
„Was für ein Jahresstart“, feixte der Mann.
Er machte einen Schritt nach vorne und schwang drohend sein Messer. Aber Lisa wich nicht zurück. Less wollte ihr helfen, aber sein Körper gehorchte nicht. Der Mann machte wieder einen Schritt, holte mit dem Messer aus. Lisa hätte ausweichen müssen, aber sie tat es wieder nicht. Aus irgendeinem Grund schien sie zu erkennen, dass es eine Finte war und er eigentlich auf ihren Arm zielte. Sie machte stattdessen einen Schritt nach vorne, rutschte so unter seinem Angriff hindurch. Dann stach sie auch schon zu. Sie sagte nichts und ihr Gesicht war ebenfalls wie eine Maske. Sie stach direkt noch einmal zu, trat dann hinter ihn. Er schien nicht zu verstehen, was gerade passierte, obwohl das Messer ein drittes Mal in ihn fuhr, sich in seine Seite bohrte, zwischen die Rippen, dann in den Rücken. Und wieder.
Erst als der Mann zusammenbrach, senkte Lisa die Waffe, die Maske wich. Sie sank auf die Knie. Sie schaute auf den Mann hinunter, dann an die Decke hinauf. Verzog das Gesicht, schleuderte das Messer zur Seite und schrie.
Lederschnauze hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Nun erst rüttelte er sich wach, holte eilig sein Messer zurück. Less starrte Lisa und den Mann an. Schaute zu, wie der Mann keuchte und zuckte. Es war ein seltsamer Anblick. Es hatte alles so einfach ausgesehen.
Drei neue Wachen erreichten sie und richteten ihre Speere ziellos erst auf Less, dann Lisa. Jemand wollte wissen, was passiert war. Der Bursche war verschwunden.
„Ich habe ihn erstochen“, sagte Less.
Er konnte ihr doch helfen.
Lisa fuhr ruckartig herum und schaute zu ihm, dann auf ihre Hände. Sie protestierte, aber Lederschnauze war lauter. Er bestätigte seine Worte und richtete das blutige Messer auf ihn.
„Ich habe ihn erstochen“, sagte Less wieder.
Es war einfach.
Zwei der Wachen packten ihn. Die dritte beugte sich über den Mann. Sie tastete nach seinem Puls, fluchte und wandte sich der Echse zu.
„Lithrilka. Kranke Lithrilka“, krächzte diese und hob einen Finger. „Nichtschen. Ab. Ab, ab, ab.“
Hatte er wohl doch etwas bewirken können.