Vorsichtig drehte sich Less um und auf einmal war seine Entschlossenheit wie weggeblasen. Er konnte nicht lächeln und seine Ohren nicht daran hindern, wie gammelige Kohlblätter nach unten zu hängen. Selbst in ihrem zarten Nachtkleid sah Ira … herrisch aus.
„Wir … m-müssen reden“, brachte Less hervor.
„Zwischen uns gibt es nichts mehr zu bereden“, behauptete Ira. Sie schloss die Zimmertür und ein Geräusch verriet, dass sie die Tür mit einem Zauber verriegelte. Gleichzeitig schlug das Fenster zu und das Licht, das magisch hinter mattem Glas von der Decke glomm, flackerte.
„Ich w-will, dass du mich von dem Fluch befreist und anhörst. Bitte“, forderte Less. Er kannte Ira doch. So war sie immer. Hielt einen erst auf Distanz und gab nur ungern Fehler zu. Um sie musste man kämpfen. Wenn es nicht weh tat, war es nicht echt.
„Du hast mich verletzt und gedemütigt, Less. Ich hätte dich noch viel härter bestrafen sollen und werde es auch tun, wenn du mich weiter belästigst“, sprach Ira.
„Aber ich weiss gar nicht –!“, Less kniff die Lippen zusammen und schaute kurz zu Hans, der definitiv nicht anwesend sein wollte. Für Ira aber schien er nicht zu existieren und Less wurde auf einmal klar, wie ernst sie es meinte. Sein Kopf wehrte sich gegen diese Situation und konnte keine Erklärung finden. Aber Ira hatte ihn verflucht.
„… i-ich glaube, wir haben dieses Gespräch unter unpassenden Umständen begonnen. Nimm doch erst einmal mein Geschenk an.“
Eilig holte Less die verpackte Blume hervor und hielt sie wie ein Schild gegen Ira, denn er wollte nicht noch einmal ein Opfer ihrer düsteren Schemenmagie werden. Sie musste doch sehen können, dass er gute Absichten hatte! Alles nur ein Missverständnis war!
„Ein Geschenk?“
Ira lächelte nicht, aber sie nahm sein Geschenk. Less schauderte, als Ira an ihm vorbei zu einem Tisch lief. Sie war so nah und doch so unglaublich weit entfernt. Sie holte die Pflanze aus der Verpackung und Less stellte erleichtert fest, dass kein Blatt und keine Blüte geknickt oder sonst verletzt war. Seine Erleichterung blieb aber nur von kurzer Dauer, denn Ira lachte unerwartet laut und kalt.
„Von allen magischen und gemeinen Pflanzen dieser Welt bringst du mir ausgerechnet einen Koboldschlund, Less! Das soll mich wohl für immer an deinen Verrat und diesen besonders schönen Fluch erinnern? Xandran Qgorlimra-Toma … Ironisch, dass der Zauber nach der Liebesgöttin benannt ist. Obwohl, nein. Nein, es passt schon.“
Less spürte, wie Blut in seine Wangen und die verräterischen Ohren schoss. Dieser verfluchte, alte Mann! Er hätte es wissen sollen! Aber er wusste nichts. Er hatte sie verraten?!
„Bitte, Ira …“, japste Less.
Er hätte ihr so viel sagen wollen. Aber kein Wort schien passend. Sein Kopf brannte und war doch leer.
„Scht. Du beginnst mich zu langweilen. Ziff wird so freundlich sein und dich wegbringen“, sagte Ira und würdigte ihn dabei keines Blickes, strich stattdessen mit ihrem Zeigefinger langsam einem Kelch der Koboldblume entlang. „Komm nicht noch einmal her, oder ich werde böse sein müssen. Und mit dir, Henri, unterhalte ich mich morgen noch. Ziff?“
Als hätte er bereits zugehört und nur auf sein Stichwort gewartet, erschien Ziff im Raum. Less wollte auflachen, doch dann erblickte er ihn und das Geräusch starb noch in seinem Hals.
Ziff war in eine schwarze Kutte mit kupferfarbenen Verzierungen gehüllt und eine tierische Maske verbarg das sonst so unscheinbar wirkende Gesicht. Da wo seine Augen aus der Maske hervorschauen sollten, glühte ein seltsam düsteres, violettes Licht. Auch da, wo zwischen der Maske und dem Saum der Kapuze ein Hals sein sollte, war nichts, nur Dunkelheit. Der untere Teil seiner Kutte war flüssig und schwarze Tropfen lösten sich davon und sammelten sich um ihn. Selbst die Finger in den Handschuhen waren nichts weiter als schwarze, leicht transparente Schemen, die wie die Augen violett glühten, als Ziff einen eigenen Zauber verwendete.
„Ira!“, versuchte Less es noch einmal, verletzt und verwirrt, aber da schossen die Schemen schon überall wie dunkle Fangarme um ihn herum in die Höhe und das Zimmer und seine Ira verblassten hinter der dunklen Magie des grässlichen Dämons. Einmal noch blickte Ira ihn an. Ihre Augen waren Amethysten und ihre Abschiedsworte waren purer Hohn.
„Bleib fern, Sterblicher“, hauchte Ziff.
Nur noch sie beide standen da, befanden sich in einer dunklen Zwischenebene. Ziff sprach leise und doch hatten seine Worte eine ungeahnte Kraft. Sie waren von einem Echo begleitet und kamen von überall gleichzeitig her, nur nicht tatsächlich aus einem Mund. Less hatte in seiner Zeit bei Ira mehrmals getroffen. Nie lange, nie mit vielen Worten. Er war ein Freund seiner Liebsten gewesen und Less wusste, dass er ein Prophet, ein Diener der dunklen Magie war. Doch es hatte ihn nicht interessiert. Ziff hatte nicht gefährlich gewirkt, meistens sogar unscheinbar. Jung, zart und einem Menschen nicht unähnlich. Jetzt aber verstand Less, dass Ziff nicht nur irgendein Dämon, irgendein Prophet war. Er verstand, dass sein menschlich wirkender Körper nicht seine wahre Gestalt, sondern eine Verkleidung war. Und er verstand, weshalb Ira wenig von den hohen Göttern hielt. Sie war mit einem ihrer direkten Widersacher im Bunde. Einem der sieben Schemenwächtern. Ihrem ganz eigenen Gott.
Less’ befand sich ganz im Griff des Wächters und auf ihm lag ein gigantisches Gewicht. Auf einmal erinnerte er sich doch an die Nacht zum Herbst hin, erinnerte sich an dieses Gefühl, an die Schwere und den Schmerz. In ihm zerbrach etwas, als er die Bestätigung erhielt, dass es tatsächlich Iras Fluch war, der auf ihm lag. Ihrer und der einer Gottheit. Er war gänzlich verloren und doch drang kein Laut aus seinem Mund.
Auf einmal war es vorbei. Less war alleine, in der finsteren Nacht, und es regnete wieder. Oder immer noch? Er war nicht mehr in Niderborgen, er stand auf der Strasse vor den Toren Liskias und der Regen war ihm ganz recht. Er schlug Less ins Gesicht und verdrängte wenigstens ein Stück der Leere, die sich in ihm ausgebreitet hatte, verbarg die Tränen auf seinen Wangen. Seine Beine liefen wie von selbst und auf einmal stand er vor der Kaserne.
Er erreichte die Waschkammer ohne einer einzigen Seele zu begegnen. Erst in der Kammer fand er andere. Einige der Frischlinge besetzen die Duschen. Waren zwar schon fertig, standen aber noch herum und machten sich einen Witz daraus, einen ihren Kollegen mit Handtüchern auszupeitschen. Im Frühling würden die ihre Ausbildung abschliessen und zu den vollwertigen Soldaten zählen. Durch ihren Anblick fühlte sich Less etwas realer. Zumindest nachdem sie ihn auch bemerkten und ihm bestätigten, dass er kein Geist geworden war.
„N-Nackig herumstehen könnt ihr von mir aus, aber macht das Wasser aus!“, blaffte Less extra laut und stiess gegen den Kipphebel der erstbesten laufenden Dusche. „Fliessendes Wasser ist nicht günstig! Könnt die neuen Wassersteine gerne selbst bezahlen!“
„Entschuldigt, mein werter Herr Less!“, rief diese eine Soldatin in Ausbildung, die er der Einfachheit wegen erst Zopf und dann später Glatze getauft hatte, obwohl ihr Haar gar nie ganz so kurz gewesen war. Sie und ihre Kollegen stellten die restlichen Duschen aus, schnappten sich ihre Kleidung und verschwanden rasch. Der ausgepeitschte Kerl kauerte noch an Ort und Stelle und schien die Situation nur müssig zu verarbeiten. Er rieb sich die geröteten Stellen, schaute dann etwas zu lange Less an und senkte letztendlich den Blick.
„D-Du … Vielen Dank … He-Herr Less“, murmelte er und suchte endlich ebenfalls seine Kleidung zusammen.
„Bild dir nichts ein und geh einfach“, murmelte Less.
Der Bursche wirkte trotz der drei Jahre so schwach und kraftlos, wie Less sich fühlte. Er stolperte beinahe, weil er mitten im Abgang noch versuchte, sich eine Socke überzustreifen. Less schloss die Tür hinter ihm und schob den Holzbalken vor. Im Gegensatz zu den Frischlingen betätigte er nur einen Hebel, diesen aber vollständig, so dass das Wasser so stark wie möglich vom Tank auf ihn herunterprasselte. Gleichzeitig aktivierte er den Heizkolben und so füllte sich der kleine Duschraum bald mit Dampf. Je schwerer die Luft und sein Atem wurde, je mehr seine Haut pochte und brannte, desto mehr kehrte die Realität zurück. Sein Körper wurde wieder seiner, sein Kopf begann zu verdrängen, aber seine Seele, die blieb weiterhin bei Ira hängen. Less biss sich auf die Lippe, bis sie blutete, um nicht zu schluchzen. Das rauschende Wasser konnte Iras Abschiedsworte nicht ersticken. Sie würde ihn bald vergessen. Er aber würde sie nie vergessen. Sie würde dafür sorgen, dass er sie nie vergessen konnte und ewig für sein Vergehen bereuen würde.