Auf einmal wurde es laut und die Eingangstür ging auf. Ihre Brüder quetschten sich alle drei gleichzeitig ins Zimmer. Vaneil trug eine Kiste und der kleine Gren hüpfte erfolglos auf und ab, um auch daran festhalten zu können, während Luev die Arme mit Reisig gefüllt hatte und unnötig oft Achtung rief. Für einmal war Selene froh um den Aufruhr, denn so war sie nicht mehr alleine mit zwei Erwachsenen, die sich nicht verstehen wollten. Sie kam aber nicht dazu, ihre Brüder nach dem Sinn dieser Sache zu fragen, denn schon trat auch ihr Vater ins Zimmer. Selene sprang auf, um ihn grüssen zu gehen.
„Hallo Moris! Wir haben dich alle schon vermisst!“
„He, so lang war ich doch gar nicht weg“, antwortete er und Selene fiel auf, dass seine Umarmung nicht so fest und schön wie sonst war. Er klang auch weniger munter.
„Guten Tag, Moris. Ich wollte mich gerade verabschieden“, sagte Nythica ebenfalls wenig munter und schon schob sie sich an Selene und Moris vorbei.
„Uh … hu … Guten Tag trotzdem? Mach’s gut, Nythica“, ächzte Moris.
Selene sah ihr nach und seufzte traurig.
„Na endlich“, konnte sich wenigstens Luiko über Nythicas Abschied freuen. Er grinste wieder sehr verstohlen. „Moris. Du siehst aus, als wärst du dem Nahrhoun begegnet.“
„Ach nah … Aber so wie du dich benimmst, könnte man meinen, das Mädchen sei der Nahrhoun“, entgegnete Moris. Selene fiel auf, dass ihrem Vater ein dicker Brief mit einem grünen, bereits geöffneten Wachssiegel zur Jackentasche heraushing.
„Vielleicht bin ich der Nahrhoun“, schnaufte Luiko halb belustigt, halb verärgert.
Selene zog etwas an dem Brief.
„Was hast du da, Moris?“
Ihr Vater setzte sich, zog Selene auf seinen Schoss und legte den Brief auf den Tisch. Er kratzte sich unentschlossen am Kopf, ehe er den Brief öffnete. Selene mochte das. Er sah so lustig aus dabei. Das braune, struppige Haar und die kleinen Narben im Gesicht liessen ihn wie einen alten Bären aussehen, der nicht an den Honig im Baum kam. Nicht wie ein Jägerwolf. Viel zu gemütlich und mit tiefer Stimme. Trotzdem war er der erste der Jäger, der Nachfolger ihres strengen Grossvaters. Er war der Beste!
„Der ist aus dem Goldenen Reich“, erklärte Moris zuletzt. „König Harald Kait von Aurena hat Briefe an alle freien Orte schicken lassen. Lädt zu einer Konferenz an seinem Hof ein.“
„Uh, die Unruhen. Seit dem Herbst nur noch ständig Unruhen“, blaffte Luiko.
„Ein König, ein König! So einen brauchen wir nicht!“, rief Vaneil, der die Kiste sorgfältig in eine Ecke gestellt hatte.
„Ich finde, dass ich ein guter König wäre“, behauptete Luev, der für das Reisig noch keinen passenden Abstellplatz gefunden hatte.
Gren lag auf der Kiste und winselte, weil er ihren Verschluss nicht aufkriegte.
Moris schaute seine Söhne einige Momente an und deutete dann zur Küchentür.
„Vanya, geh mit den anderen in den Garten. Euer Ohm packt später mit euch aus.“
Luiko schien anderer Meinung zu sein, denn er hob beide Augenbrauen.
„Nnhh… na dann!“, war auch Vaneil klar nicht zufrieden, aber er griff Grens Hand und zog ihn mit zur Tür. Luev war auf einmal sehr panisch, weil er immer noch das Reisig balancierte, und warf es ausgerechnet mitten im Gang ab.
„Ich darf doch hierbleiben und zuhören? Nicht wahr, Moris?“, fragte Selene ganz leise und legte ihre Arme um seinen dicken Hals.
„Hm … das darfst du. Du bist alt genug, Selena“, entschied ihr Vater, denn er konnte Selene so gut wie nie einen Wunsch abschlagen. Und Selene wollte unbedingt mehr über diesen König und die Konferenz wissen!
„Wohl, wohl. Wie gesagt, lädt der Goldene König an eine Konferenz“, wiederholte Moris, als die Kinder nicht mehr im Haus waren. „Leider geht es um die Unruhen.“
Luiko gähnte provokativ und arbeitete an seinem neuen Schmuckstück weiter.
„Ich würd nicht gehen. Unsere Probleme haben die nur interessiert, wenn sie Profit daraus schlagen konnten. Wieso sollten wir zuhören?“
„Unabhängig unserer eigenen Probleme sind und bleiben wir der alte Kern des Landes. Es liegt auch in unserem Interesse, dass unsere Nachbarn sicher und stabil sind und diese Unruhen möglichst im fernen Süden bleiben“, erklärte Moris.
Er verstand sehr viel von Konferenzen und allgemein Problemen mit anderen Ländern. Selene hörte ihm immer gerne zu. Über die Unruhen hatte Moris bisher aber noch nie geredet und Selene wusste auch nichts darüber, ausser dass sie vielleicht an ihren Albträumen Schuld waren. Ab und zu kamen Reisende vorbei und vor allem die Vögel und Schatten waren schnell. Sie alle brachten neue Erzählungen, Träume und Gefühle. Und die Nikaere schnappten die Bruchstücke und erfuhren dadurch ebenfalls sehr lebhaft von dem Schrecken. Selene dachte an den Abgrund und schauderte.
„Es wird eine grosse Ehre sein, für Shidria und ganz Dahrfaorabey vor dem Goldenen König zu sprechen!“, sagte sie und lächelte extra breit.
Moris erwiderte ihr Lächeln und nickte.
„Richtig. Wir müssen neue Bündnisse schaffen, wenn wir wieder etwas von dem Glanz erreichen wollen, den wir zu den Zeiten unserer Urmutter besassen. Darum werde ich schon Morgen abreisen.“
„Uh! Wann kommst du zurück?“, fragte Selene, während Luiko gluckste.
„Das kann ich noch nicht genau sagen“, antwortete Moris und zögerte auf einmal ganz komisch. „… die Hauptkonferenz findet eben erst am … sechsten Frühwintertag statt.“
Selene erkannte, weshalb ihm die Worte schwer fielen, denn in ihr lösten sie sofort ganz viele unschöne Gefühle aus. Es fiel ihr schwer, Ruhe zu bewahren.
„A-Aber das ist mein Geburtstag!“
„Ich weiss, Selena. Geht leider nicht anders. Aber ich werde dir das Schönste der Schätze der Stadt mitbringen. Versprochen.“
Selene musste fast weinen. Aber sie war kein kleines Kind mehr, nicht so wie ihre Brüder, die nicht mit im Raum beim wichtigen Gespräch sein durften. Sie musste ihren Vater mit schlauen Worten überzeugen können. Vor zwei Jahren war er schon einmal in Aurena gewesen. Er hatte ihr danach oft von der goldenen Burg mit den ebenso goldenen Apfelbäumen erzählt. Dem Hafen mit dem glitzernden Wasser, den unzähligen Marktgassen und verschiedenen Leuten … Auf einmal fiel ihr eine Lösung ein!
„Was wäre, wenn ich mitkomme, oh mein Vater? Darf ich mitkommen? Bitte, Moris!“
„Ich weiss nicht, ob das gut wäre“, wich er aus.
Dass sie ihn direkt beim Titel nannte, half aber, das konnte Selene sehen.
„Was will ein Mädchen mit Wachsfingern schon unter dem mittländischen Adel?“, provozierte ihr Ohm von der Seite her.
Selene verbarg ihre Hand unter dem Tisch und formte eine böse Geste in seine Richtung.
„Bitte … Ich denke so oft an deine Erzählungen und ich will bei dir sein und dir helfen! Ich wünsche es mir so sehr, sonst brauche ich gar nichts!“, bettelte sie.
Sie konnte Moris ansehen, dass er schon beinahe überredet war. Also schaute sie ihn intensiv an, mit ihrem liebsten und doch etwas traurigen Gesicht. Gerade, als die Eingangstür sich ein weiteres Mal öffnete und ihre Mutter mit Flunuinu zurückkam, gab er auf.
„Wohl, wohl! Kann meiner Prinzessin doch nichts abschlagen.“
Selene quietschte freudig und gleich noch ein zweites Mal, als Flunuinu sie stürmisch begrüssen kam und ihr sofort die Hände ableckte.
„Bin ich etwa gerade in eine Verschwörung geplatzt?“, rief ihre Mutter ihnen zu.
„Lilya! Liebe Mutter! Vater nimmt mich mit nach Aurena! Ich freue mich schon sehr!!“, antwortete Selene und umarmte erst den Familienhund, dann Lilya.
„Ach und das entscheidet ihr ganz ohne mich oder die Oberste?“
Selene sah, dass ihre Mutter ihr zuzwinkerte und nun waren jegliche Tränen wie auch die bösen Schemen verbannt. Sie strahlte und war auf einmal ganz hibbelig.
„Schau, Moris! Lilya hält es auch für eine gute Idee!“
„Wohl, wohl …“, beschwichtigte Moris weiter.
Lilya drückte ihm einen Kuss auf und schnippte ihrem Bruder einmal gegen den Hinterkopf. Ihre Augen funkelten verschwörerisch, aber trotz der Farbe gar nicht eisig.
„Ich bin auf dem Weg der Obersten begegnet. Sie hat bereits gehört, dass ein Brief aus Aurena kam und gute Zeichen für diese Reise im Silberspiegel gesehen. In einem Jahr schon beginnst du deine Lehre als Priesterin, Selene. So eine Erfahrung wird dir gut tun.“
Selene sprang auf und umarmte beide noch einmal so fest, wie sie nur konnte.
„Danke! Ich werde ganz artig sein und die Shirricia gut vertreten!“
„Das wissen wir doch, Liebes. Und wir werden alle in deinen Träumen bei dir sein, bis ihr wieder hier in meinen Armen in diesem Haus seid“, flüsterte Lilya.
„Wenn bis dahin noch ein Haus steht“, stellte Moris auf einmal auch schelmisch fest. „Immerhin müsste Lurin das Haus hüten, sobald du zur nächsten Ritualnacht aufbrichst.“
„Pha!“, machte Luiko, Selenes Eltern aber lachten und Selene lachte mit ihnen. Sie war glücklich. Es würde eine wundervolle Reise werden.