Ihr Schiff war nicht das grösste am Hafen, aber da Selene bisher nur kleine Boote gekannt hatte, war sie sehr aufgeregt. Als es endlich los ging und sie die Hafenstadt hinter sich liessen, liess sie auch ihre Sorgen zurück. Alles verschwand im Nebel und bald konnte Selene gar nichts mehr sehen, nicht einmal das Wasser! Sie verstand nicht, wie diese Leute das Schiff so sicher steuern konnten, denn die Bucht war angeblich so voll mit Untiefen, dass man an einigen Tagen an gewissen Stellen zu Fuss bis zu den Inseln laufen konnte, die sie Sylben nannten! Wenn man sie denn fand in diesem weiten Nebel. Hier draussen war die Welt wie eine unbekannte Zwischenebene voller Geheimnisse und Möglichkeiten. Und sie waren ein Geist, der lautlos darauf trieb. Ganz eins mit der Magie.
„Du, Moris?“, fragte Selene irgendwann.
Noch immer stand sie an der Reling und schaute in den Nebel hinunter, hoffte, trotzdem etwas darin zu erkennen. Einen kleinen Fisch, der zu ihnen springen wollte, oder sogar eine Sirene! Aber nichts rührte sich und das Schiff schaukelte so gleichmässig, dass sie müde wurde.
„Was denn, Selena?“, wollte Moris wissen, der sich hingesetzt hatte und lieber den feuchten Holzboden anstarrte. Er hatte wohl weniger Freude an der Fahrt.
„Wieso dürfen Mondkinder keine Mondkinder heiraten und Sternkinder keine Sternkinder?“, wollte Selene wissen, weil es sie nach Nythicas Besuch doch wieder beschäftigt hatte.
Moris liess sich Zeit mit seiner Antwort und kratzte sich wieder am Kopf, knetete dann die eigenen Hände und rümpfte die Nase.
„Du weisst doch, dass unsere Urmutter Erriade die erste war, die von den Göttern mit den Gaben der Sterne und des Mondes gesegnet wurde“, begann er dann.
„Mh, sie besass alle vier Gaben und lebte hunderte Jahre!“, bestätigte Selene.
„Richtig. Und in dieser Zeit gab sie die Fähigkeiten an viele Kinder und auch an ihre Freunde und Anhänger weiter. Die Fähigkeiten spalteten sich aber nach ihr in ihre beiden Elemente und nur noch ganz selten kam es vor, dass jemand der Shirricia beide Grundzüge aufwies. Mit den Schatten des Mondes und dem Licht der Sterne ist es wie mit vielen Dingen in der Welt. Wie mit Gäas Schimmern und den Schemen des Yarrs. Alle starken Mächte müssen im Gleichgewicht gehalten werden. So auch die Shirricia. Unsere Götter waren schon immer ein Paar. Sie sind die obersten zwei der Götterwelt Zzha, die Sternenmutter und der Mondvater. Und so muss es auch in unseren Familien sein.“
Selene hörte ihm zu und musste beinahe einschlafen. Nicht, weil es langweilig war. Im Gegenteil. Aber seine Stimme war tief und Göttergeschichten machten sie glücklich.
„Ich finds trotzdem etwas schade“, murmelte sie und gähnte. „Wir haben doch eben nicht nur alles den Fähigkeiten zu verdanken.“
Moris lachte, tief und etwas rau, wie ein alter, lieber Bär.
„Mich interessiert, wieso du so streng über’s Heiraten nachdenkst, kleine Prinzessin. Hast du eine bestimmte Person kennengelernt, von der ich wissen sollte?“
Selene streckte ihm die Zunge heraus, was schwierig war, weil sie immer noch müde, aber auch etwas angewidert war.
„Nah! Niemals! Niemand weiss etwas und ich habe auch niemanden kennengelernt! Ich will gar nicht heiraten. Wenn zwei Leute heiraten, haben sie Kinder und ich will keine Kinder. Kinder sind laut und räumen nie auf.“
„Sind sie das?“, hakte Moris nach. Dann sprang er auf, packte sie ohne Vorwarnung und Selene quietschte, zappelte und lachte. Er lachte mit.
„Bist du etwa niemals anstrengend und im Weg, Selena?!“
„Nah! Niemals-Niemals!! Ich bin die Ausnahme! Ich bin artig!“
Ihr Vater kippte sie über die Reling in den Nebel hinaus, woraufhin Selene kreischte. Doch sie kreischte nur seinetwegen. Sie wusste, dass er nie losgelassen hätte.
„Wenn ich erwachsen bin, habe ich keine Kinder! Nur viele Hunde und eine Eule und einen Hermelin und Vögel und Katzen! Moris, wieso hat die Nebelgöttin auch wie Licht und Schatten eine Katze als Begleitung? Ist sie eine Schwester der anderen?“
Ihr Vater setzte sie auf die Reling und wuschelte ihr durchs Haar.
„Ich glaube, da hast du was falsch verstanden, Selena. Katzen gehören nicht zur Nebelgöttin. Ihr liebstes Tier heisst Katzenbär. Das ist ähnlich, aber nicht ganz.“
„Hu. Ein Katzenbär? Dann hab ich auch so einen später! Gibt es hier viele solche?“, fragte Selene weiter, da sie nicht wusste, wie sie sich die vorstellen musste.
„Ich … glaube nicht?“, antwortete ihr Vater nach einem Moment. „Es heisst, die Göttin kam von weither, ehe sie das Goldene Reich besuchte und den Nebel aufs Meer brachte. Natürlich kommen alle Gottheiten von weither, denn die hohen unter ihnen leben eben weit weg in Zzha und betreten unser Vvasta nur sehr kurz jeweils. Die niederen bleiben länger hier, aber ihren Katzenbär brachte sie nicht mit. Den gibt es selbst jetzt angeblich nur auf einem weit, weit entfernten Kontinent.“
„Ich werde trotzdem einen haben“, murmelte Selene.
„Zum Glück“, sagte Moris nun mit einem Glucksen, „hat beinahe jede Gottheit mehrere Tiere, die ihr besonders treu sind. Ich kenne die Nebelgöttin zwar nicht, aber ich kenne ein anderes Tier in ihrer Gunst, das du hier tatsächlich antreffen kannst.“
Selene wurde wieder etwas wacher und schaute ihn neugierig an, erst recht, als er nach unten in den Nebel deutete.
„Katzenhai“, hauchte Moris und Selene musste lachen.
„Moris! Katzenbär von mir aus! Aber ein Katzenhai? So was gibt es doch nicht! Du nimmst mich nur auf den Arm mit all den Katzen!!“
Sie lachte und er lachte mit. Jemand auf dem Schiff rief auf einmal etwas. Nun war Selene wieder gänzlich wach und schaute sich um. Denn die Nebelwand wurde dünner und dann kam jäh die Küste in Sicht. Das war also Gundra, das Herz des Goldenen Reiches! Noch war Gundra weit weg und doch konnte Selene bereits die Hauptstadt sehen. Sie war riesig. Grösser als alle anderen Städte und dabei sah sie erst eine Seite davon! Sie konnte sich kaum satt schauen, aber da, direkt an den Klippen oben, strahlte die Burg des Goldenen Königs! Selene zählte jede Sekunde, in der ihr Ziel näher und näher kam. Da waren sie nun. In Aurena.
Ausgelaugt und vollkommen zufrieden warf sich Selene in ihr Gästebett. Sie hatte noch nie auf einer so dicken und grossen Matratze gelegen, mit so vielen Kissen! Zuhause teilten sie und Vaneil sich ein Zimmer, Luev und Gren das andere. In der Goldburg aber besass sie einen Raum für sich allein und er war so gross, selbst mit all ihren Habseligkeiten hätte Selene ihn nicht füllen können! An der Wand hing ein ovaler Spiegel und auf der Kommode lagen eine goldene Bürste und zwei hübsche, mit Edelsteinen verzierte Haarklammern. Der Boden war mit einem moosgrünen Teppich ausgelegt und passende Vorhänge verdeckten ein klares Fenster, das auf einen Balkon hinausführte. Selbst die Kerzenhalter waren Kunstwerke voller Schnörkel und Verzierungen. Sie hätte für immer hier bleiben können.
Ein lautes Fluchen liess Selene zusammenzucken. Sie erhob sich und trat zur Tür. Die führte in ein Zimmer mit einer grossen Polstergruppe und einem lächerlich tiefen Tisch, beinahe wie für Kleinkinder gemacht. Ein Kaminfeuer spendete Licht und Wärme und an allen Wänden hingen aufwendig gestickte Bilder. Zwei Türen führten von dem Raum aus weiter. Eine dicke hinaus auf den Gang und eine kleine in das Schlafzimmer, das Moris erhalten hatte. Die kleine Tür stand offen und deswegen konnte Selene ihren Vater sehen, der vor seiner Tasche stand und sich die Hände ausschüttelte.
„Moris? Ist etwas passiert?“, fragte sie besorgt.
Er winkte ab.
„Ach nah. Ich hab nur gerade unfreiwillig die Schutzzauber zu spüren gekriegt.“
Selene runzelte die Stirn und versuchte die Blockade zu erspüren. Doch sie fand nichts. Sie konnte nur das Feuer leise knacken hören.
„Aber Schutzzauber wirken nach aussen wie ein Schild!“
„Wir und sicher auch viele andere nutzen die Schutzkristalle so, mh. Aber hier in Gundra gibt es nur wenige, die der Magie von Geburt an Nahe sind. Sie schaffen sich selbst keinen Nachteil, wenn sie die Zauber nicht nur um, sondern über das ganze Gebiet legen. Es ist gut möglich, dass sie sich damit sicherer fühlen.“
„Wieso? Fürchten sie sich vor ihren eigenen Gästen? Das ist sehr unfreundlich!“
Er schnalzte mit der Zunge und hob die Hände.
„Die werden ihre Gäste wohl genug achten, um die Quartiere nicht zu beeinträchtigen. Wahrscheinlich haben die Angestellten einen Fehler gemacht und uns falsch eingeordnet. Immerhin sind wir letztendlich … auch nur Menschen.“