Ihr Vater kniete sich hin und legte seinen Kopf und einen Arm auf Bodenhöhe. Er starrte den Teppich unter seinem Bett an, ehe er zurück auf die Füsse kam und weitere Stellen untersuchte. Erst die Schubladen der Kommode und die Fenstersimse, dann auch die Wand hinter den Stickereien und die Ablage über dem Kamin. Selene sah ihm aufmerksam dabei zu, kicherte hinter vorgehaltener Hand, als sie das gesuchte Artefakt über der Eingangstür entdeckte. Er aber übersah es und steckte seinen Kopf stattdessen in das Abzugsrohr des Kamins.
„Moris, das ist doch heiss!“
„Nah. Gerade mal ein wenig … Gut, du hast recht. Ist wirklich heiss.“
Er entfernte sich vom Kamin und wedelte sich frische Luft zu. Selene erlöste ihn und deutete zu der Tür.
„Hätte ich mir doch denken können! Die Städter haben keinen Sinn für guten Häuserschutz“, murmelte Moris und pflückte das Schmuckstück von seinem Platz.
„Ich werde es der Hofmagierin bringen, dann sind wir –“, er brach ab und blickte erst den kleinen Schutzstein, dann Selene an. „Also ausser dir wäre lieber, die Magie auf den Zimmern gedämmt zu haben. Ich würde verstehen, wenn du Ruhe haben willst nach dem langem Tag.“
Selene sah zum Fenster. Da waren so viele Energien auf einem Haufen. So viele Träume und Erinnerungen. Die eigene Magie zu drosseln und abzuschirmen, klang verlockend. Doch wäre ihr Vater nicht enttäuscht? Die Oberste hatte sie nicht grundlos nach Aurena gelassen, sie musste fleissig üben!
„Ich uh … Ich will es gerne probieren. Wenn die Burg und die Stadt voller Schutzzauber sind, werden die Eindrücke nicht alle auf einmal kommen.“
„Wohl, wohl. Dann werde ich mit der Magierin reden. Und wenn es doch zu viel wird, kriegen wir bestimmt einen neuen Zauber“, entschied er.
„Ausserdem wirst du doch ohne deine Kräfte nervös“, fügte Selene an.
„Was? Du musst dich verhört haben! Wir mussten deinen Ohm an einen Baum binden, damit er den Neuen nicht ständig das Wild wegschnappte. Ich hingegen komm auch gut ohne meine Gabe als Seughdule aus. Als ich um die Hand deiner Mutter anhielt, liess mich dein Grossvater ohne Magie Teneantel durchqueren. Aber für einen Midaeghney aus Mor’Leysaur ist das kein Problem!“
Selene giggelte.
„Du hast dich von einem Liebesbaum schnappen lassen und Mutter musste dich retten!“
Er gab sich bereits geschlagen und seufzte
„Du hast wohl recht. Du kommst ganz nach Lilya. Ich habe keine Chance gegen dich.“
„Vielleicht kann ich eine Jägerin werden und du wirst die Priesterin! Du siehst aber sicher gar nicht anmutig aus in einem Kleid, du Bär!“
„Nah, jetzt aber! Selene Lilyoris Douhls, du hast das Mundwerk einer Davarrin!“, empörte sich Moris und hob warnend einen Finger.
„Uh … Entschuldigung, Vater“, nahm Selene die Beleidigung halblaut zurück.
„Nah, keine Entschuldigungen mehr!“, sagte Moris aber streng. „Du hast es diesmal zu weit getrieben. Ich muss dich wohl oder übel fressen.“
Selene schrie und suchte hinter einem Sessel Zuflucht. Aber sie war lange nicht schnell genug. Ihr Vater liess den Schutzstein fallen und verschwand. Im nächsten Augenblick stand er schon vor ihr und schnitt ihr den Weg ab. Er packte sie und dann war auch sie ein Teil der Schattenwelt. Alles war grau und schwarz und in ständiger Bewegung, flimmernd und fliessend wie die Oberfläche eines vom Wind aufgewühlten Sees. Selbst ihre eigenen Finger waren ein Lufthauch. Da und zugleich nicht da, im Gegensatz zum Rest jedoch strahlend hell, reine Energie in einer düsteren Zwischenwelt.
Sie entwischte Moris und holte Anlauf. Der Boden, der Tisch, die Möbel und selbst die Wände, in dieser Ebene waren sie ihr alle willig. Sie formten sich unter ihren Füssen, trieben sie an und halfen ihr mit dem Sprung, als sie herumfuhr und einen Satz machte. Ihr Vater hob sich gut vom Rest ab, sie konnte die Energie seiner Seele durch seinen Körper strömen sehen. Sie traf ihn und gemeinsam stürzten sie und kullerten davon. Die Tür war kein Hindernis für sie, die Schatten führten sie daran vorbei.
Schlagartig wurde die Welt klar. Farben und Formen kehrten zurück und waren so scharf, dass es beinahe schmerzte. Kantig und kalt. Doch Moris unter ihr am Boden war weich und warm. Sie lachten und konnten kaum mehr aufhören.
„Ist wirklich besser ohne den Schutzstein“, bestätigte Selene, als sie endlich wieder tief atmen konnte. Sie grinste ihren Vater an und setzte sich auf. Er tat es ihr gleich.
„Da stimme ich zu. Wir besässen diese Kräfte nicht, wären sie nicht für uns gemacht.“
Sie kamen auf die Beine und richteten ihre Kleidung. Erst als sie sich ihren Zimmern zuwenden wollten, bemerkten sie die Gestalt am Ende des Ganges. Eine Frau stand dort, in ein langes, seidenes Gewand ganz in der Farbe von frischer Minze gekleidet. Sie war unglaublich schön, schöner vielleicht sogar als Nythica, mit ihrem zarten und doch irgendwie strengen Gesicht. Ihr braunes Haar war mit einem aufwändigen Knoten zurückgebunden, einige Strähnen reichten aber nicht hinein und schmiegten sich um ihre Stirn und die hohen Wangen. Über ihrer linken Hand schwebte ein kleines Licht, ähnlich der Magie, die ihre Jäger erzeugen konnten. Es war aber nicht golden und hell, sondern ganz zart matt und schimmerte mal in dieser und dann jener Farbe. Selene war völlig fasziniert.
Die Dame nickte ihnen zu und Selene erkannte ein Lächeln in ihrem Mundwinkel, kaum vorhanden und doch vielleicht gerade deswegen herausfordernd. Moris wusste auf einmal nicht mehr, wohin er seine Hände tun sollte. Er entschied sich dafür, sie in den Falten seines Hemds zu platzieren, ehe er sie doch wieder anhob und sein Haar richtete, während er einen guten Abend wünschte. Er schien noch mehr sagen zu wollen, tat es aber nicht. Selene deutete einen Knicks an, erwiderte dabei das schelmische Lächeln.
„Geniesst euren Aufenthalt, wilde Freunde“, wünschte die Dame verheissungsvoll, dann war sie schon wieder verschwunden, fast wie ein Geist. Moris zog Selene eilig in ihre Räumlichkeiten zurück, als hätten sie einen Fehler gemacht. Selene hätte noch lange über diese schöne Frau nachgedacht, wenn ihr Vater sie nicht noch einmal angesprochen hätte: „Selene, ich gehe jetzt zur Hofmagierin. Pass du solange auf das Kaminfeuer auf, mh?“
Sie blinzelte und eilte schnell los, ging sich ihre Schuhe und die Aussenkleidung wieder anziehen.
„Aber Moris! Kann ich nicht mit? Nur kurz! Mich interessieren die Schutzzauber auch.“
Moris stiess sich beinahe das Schienbein am lächerlich kleinen Tisch, als er sich etwas zu schnell umdrehte und sie kritisch anschaute.
„Hu? Seit wann findest du so etwas spannend?“
Selene verzog ertappt den Mund.
„Also es ist sooo … Grossmutter hat uns einmal in der Schule alte Geschichten erzählt. Sie sagte, Aurena würde von einer richtigen Göttin beschützt, die auch die Nebel auf dem Meer kontrolliert! … und einen Katzenbären als Symbol hat.“
„Mh, das ist wohl wahr. Eine niedere Göttin nur, aber dennoch mächtig. Ich weiss nicht, ob man so eine besuchen kann, Selena.“
Selene war enttäuscht, aber aufgeben wollte sie nicht. Sie verschränkte die Arme und schaute ihren Vater sehr intensiv und lange an, auch ohne das Eis. Er seufzte.
„In Ordnung. Mitkommen und fragen schadet keinem.“
„Danke, oh mein lieber Vater!“, freute sich Selene ehrlich.
„Erwarte aber nicht zu viel. Vor einer so grossen Versammlung haben alle viel zu tun.“
Selene war aufgeregt und tatsächlich freute sie sich sogar auf die Nacht, denn in so einer schönen Stadt konnte es keine Albträume geben. Vielleicht träumte man hier auch gar nicht von silbernen Wölfen, sondern goldenen Katzenbären.