Ungeduldig schaukelte Selene hin und her und zählte die Sekunden. Schon viel zu lange diskutierte Moris mit diesem Mann und sie konnte nur die Hälfte der Worte hören und verstehen. Eigentlich verstand Selene Mittländisch sehr gut. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie alle mindestens eine andere Sprache sprechen konnten und da sie vom Mittelland umringt waren, machte das viel Sinn. Selene hatte sich Mühe gegeben, alle Worte zu lernen. Sie hätte gerne der Versammlung beigewohnt und gewusst, was all diese wichtigen Leute zu erzählen hatten. Aber sie zweifelte inzwischen daran, dass sie viel verstehen würde. Politik und andere Erwachsenendinge waren auch auf Shirric kompliziert und bereits dieser eine Mann redete zu umständlich für sie. Nur eines verstand sie deutlich:
Die Erwachsenen wollten sie nicht dabei haben.
Selene seufzte und richtete die Ärmel ihres Jungpriesterinnenkleides. Sie hatte die niedere Göttin nicht treffen können und nicht einmal die magischen Gegenstände näher ansehen dürfen. Jetzt hatte sie sich extra so schön gemacht und durfte trotzdem nicht dabei sein. Spielen solle sie mit den anderen Kindern. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte mit ihrem Vater ihr Volk repräsentieren! Nicht erst beim Essen dasitzen, wenn sie nichts mehr lernen konnte, weil sich alle bereits zerstritten hatten. Heute war doch ihr Geburtstag und sie war bereits elf.
Der umständliche Mann verabschiedete sich von Moris und verschwand durch die grosse, goldene Tür, die in den Konferenzraum führte. Erstaunlicherweise lächelte ihr Vater, als er sich zu ihr umdrehte und sie zu ihm winkte.
„Lässt sich leider wenig machen, Selena. Aber das Gerede dieser aufgeblasenen Leute würde dich sowieso langweilen. Mich zumindest nervt schon jetzt einiges grausam“, erklärte er mit gesenkter Stimme. „Wenn du willst, darfst du jedoch kurz mit mir in den Raum und dir den anschauen. Vielleicht sogar jemandem einen guten Abend wünschen, ehe die ernsten Gespräche beginnen. Wäre das was?“
Selene nickte. Das war tatsächlich ein guter Anfang! Wenn sie bereits jetzt Leute kennenlernen durfte, konnte sie sich beim Bankett schneller mit allen anfreunden und vielleicht doch noch spannende Information erhalten!
„Aber du musst mir nachher alles erzählen! Auch die lustigen und dummen Dinge!“
„Die lustigen und dummen Dinge besonders“, versprach Moris schmunzelnd.
Sie kreuzten einen Arm als Vereinbarung und wieder nahm er sie an der Hand. Selene fühlte sich wie eine richtige Prinzessin, als er sie durch die goldene Doppeltür in den riesigen Saal führte. Die Tische bildeten zwei lange Reihen, die hinten geschlossen waren. Da dort besonders grosse und teuer aussehende Stühle standen, musste es der Platz des Goldenen Königs und seiner Familie sein. Die Stühle waren noch leer. Einige der anderen Sitze waren aber besetzt und auch abseits der Tische standen kleine Gruppen beisammen. Moris stellte sich mit ihr nahe des Eingangs vor eine Säule und ging neben ihr in die Knie. Mit dem Finger deutete er unauffällig auf die einzelnen Gruppen und Selene stellte sich auf die Zehenspitzen, um auch bestimmt nichts zu verpassen. Es war ein spannendes Gemisch und alle trugen so viel edle Kleidung und Schmuck und Glanz, hätte sie nicht ihr Jungpriesterinnengewand angehabt, hätte sie sich unwohl gefühlt!
„Das dort ist König Haralds Tante dritten Grades. Sie war vor einigen Jahren bei uns in Shidria zu Besuch. Die beiden mit dem silbernen Muster auf der Kleidung müssten eine hohe Dame und ein hoher Herr von den Sylben sein. Die Sylben sind teilautonom und gehören offiziell zu Gundra, aber trotzdem besitzen sie ihre eigene Königsfamilie.“
„Mit sogar zwei Silbernen Königinnen, hat Grossmutter erzählt“, ergänzte Selene.
„Genau. Königin Hafren, die wir nach unserer Anreise kurz getroffen haben, stammt von den Sylben und dieser königlichen Familie. Sie wird bestimmt später auch no–“
„Die schöne Frau im Gang war die Königin?!“, stellte Selene auf einmal fest und sie musste aufpassen, dass sie nicht zu laut wurde. „Warum hast du nichts gesagt! Zu einer Königin sollte man etwas sagen! Ich hätte etwas sagen können!!“
Sie erinnerte sich noch gut an die Dame, die sie an ihrem ersten Abend gesehen hatten. Die ihr so fein zugelächelt hatte mit ihrem strengen, feinen Gesicht, und die ebenfalls Magie wirken konnte. Moris hätte wirklich etwas sagen sollen!
„Ich brauchte selbst einen Moment und uhm … Wie auch immer, dort siehst du übrigens die Vertreterin Darkeens und der Schwarzen Königin mit ihren Leuten.“
Selene verdrehte die Augen, weil sie nicht verstehen konnte, weswegen ihr Vater ihr keine richtige Antwort drauf geben wollte. Erwachsene waren kompliziert.
„Ihre Soldaten haben aber auch eine goldene Krone auf dem Wappen und keine schwarze“, merkte sie trocken an.
Moris seufzte und kniff ihr in die Wange.
„Sie tragen eine goldene Krone auf ihrer Flagge, weil ihre Königsfamilie ursprünglich ebenfalls zum Adel des goldenen Reiches gehörte und das Land unter dem damaligen Goldenen König zur Verwaltung erhalten haben. Dieses Rot ist die Farbe der Familie und des Blutes, das im Kampf mit dem Westen vergossen worden war … und das Schwarz kommt vom Namen des Gebiets und der Verbindung zu den Drakar. Darkeen hat wie wir gute Beziehungen zu allen Synten.“
Das war nun doch wieder spannend und lenkte Selene von den Gedanken an die Goldene Königin von den silbernen Inseln ab.
„Hätten wir eine Königin, müssten wir uns mit ihnen streiten! Dahrfaorabey hat auch Schwarz im Namen und schwarze Tannen sind besser als … Was ist ein Kehn?“
Er lachte leise.
„Kann ich dir leider auch nicht sagen.“
Das bestätigte Selene, dass ihre Schwarze Königin besser gewesen wäre. Aber sie hatten keine Königin, nur eine oberste Priesterin und mehr brauchte es auch nicht.
„Wer sind diese Leute, die sich schon jetzt streiten?“, fragte sie und deutete auf einen Haufen laut diskutierender Frauen und Männer in eher unauffälliger Kleidung.
„Das müssten die Verwalter der verschiedenen Gebiete Gundras sein“, schätzte ihr Vater. „Ich kenne die auch nicht alle, aber du erkennst sie an den goldenen Streifen auf ihren Schultern. Die weisen sie als hohe Politiker aus, die im Namen der Königsfamilie arbeiten.“
„Und das da ist ein Priester aus Caelle“, erkannte Selene auch von selbst den nächsten Mann und zog eine Grimasse, denn Caelle war der schlimmste Ort. Ihr Vater stimmte in die Grimasse ein und beugte sich tiefer zu ihr herunter.
„Na, wenigstens ist es nur einer, mit dem sollte ich fertig werden.“
„Du würdest mit allen fertig. Die haben im Gegensatz zu uns nicht mal eigene Magie.“
Selene ging einige Schritte in die Halle hinein, da sie einen noch genaueren Blick auf alle werfen wollte. Die Menschen waren schon ganz spannend, aber sie wollte auch Synten sehen! Drakar waren wahrscheinlich keine an die Versammlung eingeladen. Viele Menschen mochten die nicht, denn sie besassen kein Verständnis für Gleichgewichte. Aber zumindest einige neutrale Zwischenwesen und Lithan mussten anwesend sein! Waren nicht die Skyren heute angekommen? Selene hatte noch nie eine gesehen und wollte sie nicht verpassen.
„Achtung, Achtung, Kindchen!“, rief eine ältere Frau mit vielen Schriftrollen und anderem Papier auf den Armen. Selene ging noch weiter nach vorne und entschuldigte sich.
„Moris? Sollten die Skyren inzwischen nicht auch da sein?“, fragte Selene.
Er gab ihr keine Antwort und als sie sich umdrehte, sah Selene, dass er von jemandem abgefangen und in ein Gespräch verwickelt worden war. Ausgerechnet der Priester aus Caelle hatte sich auf ihn gestürzt und versuchte ihrem Vater mit seiner froschgrünen Robe Konkurrenz zu machen! Aber Moris war grösser und breiter und sah schicker aus in seinem grauen Hemd und dem langen, moosgrünen Mantel. Sie hätte ihm helfen gehen können, oder …
Selene schaute kurz, ob der umständliche Mann von vorhin ausser Sichtweite war, dann schlich sie sich weiter in den Raum hinein und hinter die linke Tischreihe. Von dort aus hatte sie einen viel besseren Blick auf die einzelnen Plätze und was alles darauf verteilt war! Selbst die metallenen Federstifte waren golden. Zwischen den Reihen, schön in der Mitte der Halle, breiteten zwei Angestellte eine grosse Karte Gahlarias auf dem Boden aus. Von ihrem Nachbarkontinent war auch ein Stück mit drauf. Und da war natürlich auch Shidria! Die Angestellten platzierten kleine Figuren auf der Karte. So viele blutrote Figuren bedeckten auf einmal die untere Hälfte. Es war Selene beinahe etwas unheimlich.
„Ah whopps!“, sprach eine tiefe Stimme und Selene zuckte zusammen, als sie doch mit jemandem zusammenstiess. Sie war so auf die Karte mit den Figuren fixiert gewesen, sie hatte sich nicht mehr auf ihre eigenen Füsse und die Leute rundherum geachtet.
„Entschuldigung“, nuschelte sie auf Mittländisch und setzte ihr bestes Lächeln auf.
Der Mann vor ihr war ihr zum Glück nicht böse. Aber klein war er. Klein und breit und mit einem solch mächtigen Bart, dass Selene nicht aufhören konnte, ihn anzuschauen. Ihr war sofort klar, dass er ein Zwerg sein musste. Waren also doch Lithan hier!