„Siehst nicht aus, als wärst du alt genug für so’n Zeug. Zumindest wenn du’n Mensch bist“, stellte der Zwerg fest und klopfte ihr hart auf die Schulter.
Selene versuchte sich daran zu erinnern, wie die Zwerge in der Sprache der Synten genannt wurden. Es wollte ihr nicht einfallen. Dabei lieh sich Shirric sich so viele Worte von der alten Sprache der Magie, waren so ihren Göttern nahe.
„Ich bin ein Mensch und nah, ich bin nicht alt genug. Mein Vater, Moris Niraig Midaeghney ist der uh wichtige Mann der Shirricia. Er steht neben dem Priester-Frosch“, erklärte Selene.
„Hm. Interessant, interessant“, stellte der Zwerg fest und Selene bemerkte, dass er mehr Goldschmuck trug als alle aus Aurena zusammen. Vielleicht gerade absichtlich? Und in seinem Haar und dem Bart hingen glänzende Steine. Absolut edel sah das aus.
„Ich muss bis zum Essen gehen. Aber ich will vorher noch mit allen Lithan reden und mit den Skyren besonders! Oder sie sehen“, erklärte Selene weiter.
Der Zwerg machte ein sehr seltsames Geräusch.
„Hach, Engel. Engel braucht keiner. Aber nen Elfen kann ich dir gern zeigen, Kind. Mein Junge Uroà sagt dir sicher gern ’n guten Abend.“
Er legte seinen breiten Arm um ihre Schultern und führte sie weiter in den Raum hinein. Dabei erzählte er ihr, dass er zwar ein Obzwerg und kein Sarzwerg war, aber als Vertreter des momentanen Königs Saromurs anwesend war. Der König besass den gleichen Vornamen wie der letzte Zwergenkönig der alten Welt und Gründer ihrer neuen Heimat. Selene verstand nicht ganz alles, da er eine besonders lustige Art von Mittländisch sprach. Aber sie erzählte ihm im Gegenzug stolz, dass sie den gleichen Nachnamen wie ihre Urmutter trug und auch nur einen Tag vor ihr Geburtstag hatte, dieser Tag heute war und sie zum ersten Mal in der Stadt war. Der Zwerg versprach ihr, dass sie und Moris gerne mal die Heimat der Zwerge besuchen kommen durften, die noch viel schöner und glänzender sei als Aurena. So ganz im Geheimen natürlich, denn schliesslich wolle man niemanden beleidigen.
Selene hatte auf einmal so viele neue Fragen bereit, die sie alle gleich gerne gestellt hätte. Sie wollte wissen, ob es bei ihnen auch so wie bei den Shirricia war, und nur Obzwerge Sarzwerge heiraten konnten. Auch über die Elfen wollte sie viel erfahren. Die Elfen hatten genauso wie die Zwerge ein Land in Gahlaria, das ihnen gehörte. Ein Land, das fast so bekannt war für seine Wälder wie Dahrfaorabey. Sie waren sich also sehr ähnlich. Luiko hatte mal gesagt, der einzige Unterschied zwischen Elfen und Menschen seien die Ohren und die öffentlichen Gruppenorgien. Was auch immer das hiess.
„Wieso mögt ihr denn keine Skyren?“, war Selenes erste Frage, aber ihr neuer Freund kam nicht dazu, ihr Antwort zu geben, denn auf einmal stand Moris bei ihnen. Er entschuldigte sich und zog Selene zur Seite. Der Obzwerg lachte, Selene aber ächzte und schüttelte sich, denn sie wollte noch so viel wissen und sie hatten noch nicht mal diesen Elfen gefunden!
„Wie man von’n eitlen Vögeln redet, tanzen sie schon an“, brummte der Obzwerg und Selene verstand es erst, als sie sich umdrehte. Da waren sie endlich, die Skyren!
Drei von ihnen betraten den Raum durch eine Tür, die beinahe zu klein für sie war. Die zwei aussen waren schlicht angezogen und trotzdem auffällig, denn ihr Haar war in einem Fall so golden wie die Sonne und im anderen lila wie Wolken vor einem Sturm. Ihre Flügel waren weiss und schimmerten bei jeder Bewegung leicht in der Farbe ihrer Haare. Selene konnte keine Energien lesen und doch erkannte sie, dass viel Magie in diesen Federn steckte.
In ihrer Mitte lief eine Frau in einem Kleid, das aussah, als hätte jemand das glitzernde Wasser der goldenen Bucht mit Kristallen geschmückt und dann in einen dünnen, zarten Stoff verwandelt. Ihre Haut war braun, ihr Gesicht kantig und ihre Augen waren noch viel heller als die von Luiko oder Lilya. Ihr Haar war kunstvoll geflochten und rosa wie wilde Primel. Ihre Flügel unterdessen waren nicht nur weiss und schillernd wie die ihrer Begleiter. Einige der Federn waren lang und ganz golden. Selene wusste nicht, ob sie das wie der Obzwerg extra gemacht hatte oder immer solche Schwingen besass. Als hätte Navia sie ihr selbst überreicht. Sie war selbst beinahe wie eine Göttin. So schön.
„Moris? Ist sie die Königin der Skyren?“, fragte Selene, aber nur leise, denn auf einmal war es ruhig geworden im Raum. Alle waren vom Anblick der Engel gefesselt.
„Die Skyren besitzen kein Königshaus“, antwortete er mit ebenfalls gesenkter Stimme. „Aber du hast recht damit, dass sie eine Regentin ist. Das ist nämlich die Dame Lycja Skryira. Sie ist seit vielen Jahren schon die Herrin der Skyren.“
„Sie ist beinahe noch schöner als Königin Hafren. Können wir mit ihr reden?“
„Vielleicht nachher. Komm, wir müssen langsam gehen.“
Er legte seine Hand auf ihre Schulter und meinte nicht wirklich, dass sie beide gehen mussten. Nur Selene musste gehen. Sie fand es unglaublich schade. Sie hätte gerne gehört, was diese Frau und auch der Zwerg und der Elf zu den Menschen sagen würden. Aber sie hatte versprochen, sehr artig zu sein. Moris musste ihr später alles erzählen. Sie würde nicht ins Bett gehen, ehe sie jedes Detail kannte!
Selene verabschiedete sich leise von ihrem neuen Freund, dessen Name sie leider gar nicht mitbekommen hatte, ehe sie sich zur Tür bringen liess. Moris versprach ihr, sie so bald wie möglich zu holen und eine Frau schenkte Selene sogar noch einen kleinen, goldenen Apfel vom Hof. Sie sagte ihr auch, wo sie die anderen Kinder finden konnte, aber Selene wollte nicht zu denen gehen. Sie fragte stattdessen, wo der Garten sei. Dass es einen gab, hatte sie schon gehört und auch die magischen Apfelbäume, das Symbol der Allmächtigen, hatte sie schon gesehen. Pflanzen interessierten sie viel mehr als andere Kinder. Die Frau fragte, ob ihr denn nicht kalt werde, aber Selene versprach, dass sie nur kurz schauen ging. So kalt war es gar nicht und es schneite auch nicht. Heute war trotz allem immer noch ihr Geburtstag und darum meinten es Niouko und Navia gut mit ihr und dem Wetter!
Sie liess sich nicht aufhalten und hatte die hohe Treppe hinunter zu den Gärten und dem privaten Hafen bald gefunden. Es war doch etwas kühl, aber nicht viel kühler als bei manchen nächtlichen Ritualen. Da trug sie ebenfalls nur ihr Jungpriesterinnengewand. Eigentlich war beinahe alles perfekt. Nur der Garten selbst enttäuschte sie bei der Ankunft.
Wollkraut und Fingerhut. Blumen der Lebensgöttin, einmal zart und heilend, einmal leuchtend und giftig. Goldwurz für eine strahlende Verbindung zur Überwelt. Amaryllis, Enzian und natürlich auch die kleinen Talglöckchen der Nebelwächterin. All diese Pflanzen hatte Selene in den Träumen der letzten Nächte gesehen, auch wenn sie nicht alle bei ihnen zuhause wuchsen, und sich danach extra ein Buch dazu in der zur Burg gehörenden Bibliothek geliehen. Aber es war Winter und im Winter blühten nur wenige Dinge. Nicht jede Pflanze konnte voller Magie selbst jetzt noch dem Wetter trotzen, egal ob sie einer Gottheit gefiel. Der Nebel lag tief und dick über dem Hafen wie ein zweites Meer. Efeu säumte in dicken Strängen die Wand und die Treppe und erinnerte daran, dass auch dunkle Götter existierten.
Selene dachte über ihre Träume nach. Hauptsächlich hatte sie die Erinnerungen ihres Vaters besuchen können. Das waren Bilder, die Selene kannte und verstand, das war einfach und angenehm gewesen. Die Wälder, Shidria und auch das Dorf ihres Vaters. Die Geborgenheit ihrer Mutter, die Wildheit ihrer Brüder und die Spannung der Jagd. Ab und zu aber waren auch die Seelen anderer auf ihre getroffen. Der Steg zum Meer war in einem Traum vorgekommen und die goldene Burg war leer gewesen, aber am Steg war eine Person gewesen und hatte nach den glänzenden Fischen der grossen Bucht Ausschau gehalten. Etwas an der Erinnerung kam Selene so bekannt vor, es zog sie dahin.
Instinktiv wusste Selene, in welche Richtung sie gehen musste. Wieso sie es tat, wusste sie nicht genau. Aber die Versammlungen würden dauern und sie wollte ihr Zusammentreffen mit den mittländischen Kindern möglichst hinauszögern. Sie wäre gerne alleine gewesen und hätte ein wenig nachgedacht, während der Nebel sich um ihren Körper wickelte. Doch sie war nicht alleine.
Als sich Selene dem Ufer näherte, konnte sie eine helle Stimme im Nebel ausmachen. Am Ende des grössten Stegs befanden sich zwei Gestalten. Eine war klein und fast so edel wie die Erwachsenen angezogen. Die andere Gestalt war gross, grösser als Moris sogar. Auf ihrem Rücken befanden sich die prächtigen Schwingen der Engel, auch weiss und passend glänzend zum Haar, das der blauen Farbe des Eisvogels glich.
„… und darum ist dieses Schiff das Beste in Vaters Besitz und ich werde es über alle Meere führen, Herr Litzkin!“, sagte die kleinere Gestalt, ein Junge in ihrem Alter.
„Kann bei dem Nebel nicht sagen, wie man überhaupt was nur schon aus dem Hafen führen soll“, brummte der Engel und der Junge lachte laut.
„Das ist doch nicht schwer! Ihr könnt bei dem Wetter schliesslich auch fliegen!“
„Muss mich auch nicht auf die Untiefen der Glitzerbucht achten.“
„Die Männer meines Vaters sind die besten Seefahrer und die Nebelgöttin hat sie gesegnet, die müssen sich nicht achten!“
„Hm.“