„Wie … Wie hiess eigentlich der andere, der da bei uns gewesen war?“, fragte Poul, gerade als die Uhren der Stadt die volle Stunde schlugen.
„Welcher andere?“, fragte Less, auch wenn er tatsächlich wusste, wovon Poul sprach.
„Na … An dem Abend auf Margaretes Anwesen. Er war keiner von uns gewesen, zumindest habe ich ihn nie mehr gesehen und so ein verflucht hübsches Gesicht würde ich doch erkennen. Er hatte aber kein Adeliger sein können, dann hätte ich ihn gekannt. Wieso weiss ich nicht einmal mehr seinen Namen?“
„Poul –“, setzte Less halblaut an.
„Ihr habt euch gut verstanden. Ich wusste zwar, dass Ira dich nie ganz losgelassen hatte. Aber ihr hattet euch trotzdem verstanden. Das hat mich echt gefreut damals. Aber schon am nächsten Abend warst du bei ihr und seither hattest du nie mehr Zeit für irgendwas sonst. Nicht für mehr Feiern, nicht für Freunde, nicht für mi–“
„Poul, mich interessiert das wirklich nicht“, zischte Less etwas lauter.
„Was ist mit dem Mann passiert, Less? Was hat Ira gemacht, dass du nie mehr mit mir und den anderen feiern wolltest? Hat sie ihn getötet?!“
„Poul! Verdammte Scheisse, Poul!!“
Less hätte ihm gerne ebenfalls eine Ohrfeige gegeben und noch viel, viel mehr. Aber er konnte sich kontrollieren, körperlich zumindest. Sein Kopf raste und dabei war er doch beinahe über sie hinweg gewesen.
„Denkst du, sie würde mich auch töten, wenn wir eines Tages zu viel Spass hätten? Wenn ich mich gleich hier ausziehen würde und –! Wir sind zwar ein bisschen verwandt, aber ich glaube nicht, dass sowas sie abhalten würde. Sie hat dich verflucht und sie hat auch schon in der Vergangenheit ganz andere Dinge getan. Selbst Jeannes Vater hatte Angst vor ihr und der war ein unglaublich grässlicher Mann.“
„Ira hat niemanden umgebracht! Du bist wahnsinnig! Oder bist du gar nicht wahnsinnig und einfach eifersüchtig, Poul?! Eifersüchtig, weil deine Nordländerin vielleicht doch nicht so wunderbar ist und dich im Stich gelassen hat, ha?!?“
Mit Poul war nicht mehr vernünftig zu reden. Er ballte seine Fäuste und diesmal reagierte Less schneller und packte ihn. Er riss Poul vor sich, legte ihm einen Arm um den Hals und drückte ihn nach unten. Poul schrie auf und schlug um sich, konnte Less aber nicht erwischen.
„Näi, näi, näi! Du bist wahnsinnig! Du willst uns im Stich lassen, weil du im Stich gelassen wurdest! Weil du ein dummer, unsensibler Ödländer bist!“
„Wer ist hier denn unsensibel, du dämlicher Darke! Dir wurde alles immer geschenkt und darum siehst du genau nichts rundherum!“, blaffte Less und würgte Poul gerade genug, dass dieser aufhörte, so zu schreien. Vielleicht auch doch etwas mehr, er konnte das schwer einschätzen, denn seine Muskeln zitterten und ihm war übel und heiss. Er hatte gut zu Poul sein wollen, er hatte es wirklich versucht! Er hatte Ira vergessen wollen!
„Du bist hässlich!“, gurgelte Poul.
„Tja, du bist weder lustig noch spassig, Poul!“, knurrte Less.
„Wenn du das nächste Mal zu Ira rennst … spucke ich euch beiden in die Schuhe!“
„Wenn du das nächste Mal zu Rena rennst … Ach warte, sie ist weg! Ha! Vielleicht kannst du stattdessen zu ihrem kleinen Bruder rennen, der ist doch als Soldat hier? Das kannst du von mir aus machen, Milander! Alleine schaffst du doch sowieso nichts!“
Less liess Poul los und nahm Abstand. Poul röchelte und wankte, konnte nur auf den Füssen bleiben, weil er sich am Brunnenrand festhielt. Less grinste den dummen Darken an, ohne dabei ein positives Gefühl zu verspüren, und grinste breiter, als der tatsächlich drohend den Finger hob.
„Ich erzähle alles Jeanne! Und nicht nur ihr!“
„Mach das, Milander. Mach nur.“
„Ich erzähle dem Oberkommandanten, dass du desertieren willst!“
„Wenn du das für richtig hältst, nur zu. Wein nur nicht bei mir, wenn du vom Feind zerquetscht wirst, während ich im Norden mit deiner Verlobten Vetseg trinke!“
Erzürnt schnappte Poul nach Luft und hätte bestimmt noch lange weitergeredet, gedroht und geflucht, aber Less liess ihn stehen. Er liess ihn an Ort und Stelle und eilte in Richtung der Kneipe davon. Zumindest für drei Sekunden lang war ihm schon nur aus Groll Poul gegenüber danach, die wildeste Feier zu starten. Das Gefühl hielt jedoch nicht lange an. Schon auf der Hälfte des Weges fühlte sich Less ausgebrannt und seine Gedanken kehrten zu all den Dingen zurück, die Poul aufgekratzt und wundgeschürt hatte. All diesen Verletzungen, die er beinahe mit Erfolg verdrängt hatte.
War es der Alkohol und die Angst gewesen, die Poul so hatte reden lassen? Oder dachte er tatsächlich all das über ihn? Waren sie denn keine Freunde? War Less ein Lügner? Und irgendwo stand Ira und lachte. Sie hatte wieder gewonnen. So war sie. Aber eigentlich hatte sie doch gar nichts falsch gemacht. Er hatte nichts falsch gemacht, aber wenn sie beide unschuldig waren, wie hatte es dann so weit kommen können?
Es musste an ihm liegen. Es lag doch immer an ihm. Er war nicht genug. Er war nie genug für irgendwas gewesen. Kein Lügner, aber ein Narr voller Fehler. Less hatte ihr von dem Mann erzählt, an dem Abend danach, als sie zu ihm gekommen war. Als sie ihm zum Ritterschlag gratuliert hatte und er endlich mit ihr hatte zusammen sein dürfen. Der Mann hatte sie nicht gestört, so hatte sie ihm versichert. Es war wie in den romantischen Geschichten, der Ritter und seine Dame waren nun zusammen und es war das perfekte Glück, solange er nur noch ihrer war. Nicht Liskias Ritter, nicht der Königsfamilie, nicht des Landes. Nur ihrer.
Ira hätte nie jemanden getötet. Oder hatte sie das?
Less drückte die Hände gegen seine Stirn. Atmete tief durch und biss die Zähne zusammen, während er seine Schläfen und Augenbrauen massierte. Ein Fehler, denn schon stiess er mit etwas zusammen. … einem Flügel? Less erstarrte und diesmal schauderte ihm aus einem anderen Grund. Da stand eine Harpyie, mitten auf der Hauptstrasse, ebenjenen Flügel weit gespreizt, obwohl auch andere Leute unterwegs waren und den Platz benötigten. Und er war direkt hineingelaufen. Er hatte zu viel getrunken. Er hätte das Land schon lange verlassen sollen. Er hatte doch beinahe alles vergessen.
„Blöder Drak“, knirschte Less und schob sich an dem Flügel vorbei.
Die Harpyie lachte. Less ging eilig weiter.
„Zu gross gewachsen für einen verlausten Kobold und doch zu knackig für einen Mittelländer!“, rief ihm die Harpyie in seiner Muttersprache nach, mit Akzent und doch besser, als es jeder Darke nördlich von Larne gekonnt hätte.
Nun drehte Less sich doch um. Die Harpyie war, wie er auch, definitiv nicht aus dem Mittelland. Sie war eine Krähe und die kannte Less besser als die Harpyien, die tatsächlich in Darkeen lebten. Die Krähen waren oft in seiner alten Heimat zu Besuch gewesen. Sie waren damals keine Freunde gewesen und Less hatte nicht vor, das zu ändern. Die Harpyie schaute ihn so boshaft und gefrässig an, er war sich sicher, sie hätte ihm die Hand gleich abgebissen, hätte er sie ihr hingehalten.
„Besser verflucht als verseucht!“, knurrte Less.
Er wollte weiter, aber schon stand die Harpyie vor ihm und drückte ihre Flügel so weit nach vorne, dass sie ihn damit beinahe einhüllte, ihm den Fluchtweg abschnitt. Less wollte sich wehren, aber wieder musste er an Ira denken und seine Reflexe blieben aus.
„Bist weit von der Heimat abgekommen, kleiner, brennender Vimmer. Genauso wie ich auch“, säuselte die Harpyie und bleckte die scharfen Zähne. Sie fasste nach seinem Haar und seinen drei Ohrringen und Less konnte nicht mehr als zusammenzucken.
„Ich würde gern frei von Krätze bleiben, d-danke.“
Die Harpyie riss die Augen auf, aber nicht aus Entsetzen. Im nächsten Moment war sie direkt vor ihm und Less hatte ihre lange, raue und vor allem nasse Zunge mitten in seinem Gesicht. Less stolperte rückwärts. Sein Ärmel verschmierte mehr, als das er säuberte.
„Ui, diesen Geschmack habe ich vermisst“, gluckste die Harpyie.
Sie hatte ihre Flügel wieder ein Stück zurückgezogen und Less nutzte die Lücke, um zu fliehen. Bis zur Kneipe war es nicht mehr weit. Die Harpyie lachte wieder über ihn. Wieso fühlte er sich so schwach? Wieso raste sein Herz und sein Körper gehorchte ihm nicht?