Vor drei Wochen
"Ich bin schneller!", rufe ich meinem älteren Bruder Karim zu und renne so schnell ich kann den Schotterweg vor unserem Haus entlang. Tatsächlich erreiche ich als erster die Mülltonne und reiße jubelnd meine Arme empor: "Gewonnen!"
Karim kommt lachelnd angerannt und knufft mich freundschaftlich in die Seite.
"He, kleine Schwester, du hast wohl heimlich geübt?"
Ich grinse über das ganze Gesicht. Glücklich, ich bin einfach glücklich, denke ich und streiche mir eine schwarze Locke aus meiner verschwitzten Stirn.
Mein großer Bruder ist zu Besuch in den Semesterferien. Wie sehr habe ich ihn vermisst. Mit ihm konnte ich früher immer über alles reden und auch jetzt möchte ich ihm so viel erzählen, vor allem über Vater, der in den letzten Monaten immer strenger zu mir geworden ist.
"Yasmin, hör mit den kindischen Spielen auf. Das gehört sich nicht für eine junge Frau."
"Yasmin, zieh dir bitte nicht mehr diese kurzen Hosen an..." usw.
Irgendwie hat das alles angefangen, als ich vor zwei Monaten 12 geworden bin.
Kurz seufze ich auf, dann verwerfe ich meine Gedanken und kuschel mich in Karims Arm. Bestimmt haben wir später Zeit darüber zu quatschen.
Vor 10 Tagen
Ich sitze in meinem Zimmer und wische mir meine Tränen aus dem Gesicht.
Karim hat sich so verändert.
Erst schien alles wie früher zu sein, aber dann hat er ständig Gespräche mit Vater geführt und mit anderen Männern, die zu uns zu Besuch kamen und danach wurde er immer reservierter mir gegenüber.
Was war denn nur los?
Er spielte nicht mehr mit mir und fing jetzt schon wie Vater an, ständig an mir rumzumeckern und mich zurechtzuweisen.
Meine Mutter habe ich letztens weinend in der Küche stehen sehen. Ich habe sie noch nie weinen sehen. Als sie mich gesehen hat, hat sie schnell gelacht: "Das sind die dummen Zwiebeln, Yasmin."
Geglaubt habe ich ihr das nicht.
Vor fünf Tagen
Mit zittrigen Knien und gesenktem Kopf, sitze ich zwischen acht Männern neben meinem Vater in unserem Wohnzimmer.
Meine Mutter und ihre Schwestern bringen ständig Tee, Gebäck und Kuchen herein.
Alle sprechen türkisch, zum Teil mit starkem Dialekt und ich kann nur die Hälfte verstehen. Warum reden sie nicht deutsch? Schließlich leben wir in diesem Land, ich bin hier geboren.
Mein Bruder ergreift das Wort und spricht mich an:
"Yasmin, nun ist es an der Zeit uns stolz zu machen. Wir haben alles besprochen und vorbereitet und ich habe nun die Ehre, dich deinem Verlobten Moustafa vorzustellen."
In meinem Kopf fängt sich alles anzudrehen. Verlobten? Ich bin nicht verlobt. Ich bin 12 Jahre und spiele mit meinen Freundinnen. Ungläubig blicke ich Karim an.
"Yasmin, bitte, reiß dich zusammen und reiche deinem Verlobten die Hand." Karim schaut mich streng an und ich wende meinem Blick dem Mann zu, den sie Moustafa nennen.
Er ist bestimmt 20 Jahre älter als Karim und trägt einen schwarzen Bart. Seine Augen schauen mich stechend an.
Mir wird schlecht und ich stehe schwankend auf und laufe aus dem Zimmer.
Vor drei Tagen
Vater war den ganzen Tag böse auf mich, weil ich mich so verhalten habe. Egal was ich gesagt habe, seine Worte blieben dieselben: "Du wirst Moustafa heiraten. Das haben die Familien so beschlossen. Du reißt dich endlich zusammen und erweist deiner Familie Ehre."
Ehre, was ist überhaupt Ehre?
Ich will nicht heiraten. Mich eckelt es vor diesem Moustafa.
Ben in meiner Klasse, den mag ich. Immer wenn er mit mir spricht, bekomme ich dieses komische Gefühl im Bauch....herrlich.
Mutter hat heute alle Koffer gepackt. Morgen fahren wir in die Türkei und die Hochzeit soll vorbereitet werden.
Nicht mit mir, ich werde weglaufen.
Heute
Ich sitze stumm in einem kleinen Zimmer zwischen zwanzig Frauen.
Mir ist heiß und mein Magen krampft sich alle zwei Minuten zusammen.
Ich versuche mich wegzuträumen, denke an Deutschland und an all meine Freunde.
Aus meinem Weglaufen wurde nichts. Vater hat mich den letzten Tag im Zimmer eingesperrt und Mutter hat bei mir geschlafen.
Ich habe sie angefleht mit Vater zu sprechen, aber sie hat nur still den Kopf geschüttelt und immer wieder gesagt: "Das ist unser Weg, Yasmin, unsere Bestimmung."
Keiner hat mich verstanden.
Ich will das alles nicht. Ich will zurück, zu Ben, Anna und Sophie, zu meinen Barbiepuppen. Später möchte ich mal einen Freund haben und mit ihm Händchenhalten. Wenn ich dann irgendwann studiere, dann lerne ich vielleicht einen netten Mann kennen. Aber das will ich entscheiden.
Mich interessiert Biologie und ich liebe Tiere. Forscherin könnte ich werden, oder Tierärztin.
"Yasmin", Mutter holt mich in die schreckliche Wirklichkeit zurück.
"Es ist Zeit. Das Fest kann beginnen."
Als ich über die Schwelle des Zimmers trete, lasse ich die fröhliche, junge Yasmin zurück, mit all ihren Träumen und Wünschen.
Vor mir steht meine neue Zukunft...furchteinflößend, grau und schrecklich, aber vor allen Dingen von anderen bestimmt.
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Nach Schätzung des Familienministeriums sind über 3000 Mädchen in Deutschland von einer Zwangsheirat bedroht.