Wie er es in seinen Gedanken drehte und wendete, seine Niederlage stand in den nächsten Zügen bevor. Er verschwendete seinen Zug damit, den einzigen weißen Bauern auf dem Brett zu schlagen. Mehr konnte er nicht tun.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du darauf hereinfällst«, bemerkte sein Gegenüber mit einem Lächeln und setzte ihn Schach.
»Ich weiß, dass du ihn mit gutem Gewissen geopfert hast.«
Missmutig schaute er auf das Brett zwischen ihnen, versuchte, seine Chancen auf ein Remis abzuschätzen. Mit dem weißen Läufer und der Dame jagte ihn Henry sicher über jedes einzelne Karo, bis der schwarze König in einer Ecke gefangen war. Dann gab es ja noch den weißen Turm, den sein Freund noch kein einziges Mal angerührt hatte.
Er schnitt seine Grimasse. Aufgeben war eigentlich nicht sein Ding, aber er war auch ein schlechter Verlierer und ein lausiger Spieler. Henry sagte es zwar nicht laut, doch der dachte es sich mit Sicherheit jedes Mal, wenn sie gegeneinander antraten.
»Ich geb auf«, erklärte er schließlich, »du hast gewonnen.«
Henry tat das Gleiche wie immer: Er holte sich seine E-Zigarette aus der Brusttasche seines Hemdes und nahm einen Zug. Künstlicher Erdbeerduft erfüllte die Luft, kitzelte ihm in der Nase. Nur seinetwegen verzichtete Henry auf dessen sonstige Luftverpester, weil sein Freund der Meinung war, er müsste mit gutem Beispiel vorangehen. So war es auch angenehmer, sich in dessen Wohnung aufzuhalten.
»Weißt du, wo dein Fehler lag?«
»Vermutlich hab ich schon falsch eröffnet.«
Sicher war er sich nicht. Das Spiel war ihm irgendwie zu hoch, aber solange Henry es ihm beibrachte, vertrieb er sich nicht die Zeit mit Blödsinnanstellen.
Sein Gegenüber zog noch einmal an der Zigarette, bevor sie jeden einzelnen Zug durchgingen. Bewundernswert, dass Henry es nicht müde wurde, es ihm mehrmals zu erklären. Mit halbem Ohr hörte er seinem Freund zu, während sein eigentliches Augenmerk auf der Packung Keksen neben ihnen lag. Die Belohnung ließ für gewöhnlich nicht so lange auf sich warten, doch Henry schien es heute nicht sehr eilig zu haben.
»Du hörst mir nicht zu.«
»Doch«, wehrte er ab, »du hast was davon gesagt, dass du mich mit dem Bauern erfolgreich abgelenkt hast. Dass ich immer auf Teufel komm raus, meine Eigenen verheize.«
Zugegeben, er wusste nicht immer, was er mit den Bauern anfangen sollte. Sie ans Ende des Brettes für eine weitere Dame bringen, schien ihm die einzige Daseinsberechtigung für sie zu sein.
Er kratzte sich am Kinn, da Henry ihm mit diesem Blick bedachte, den er jedes Mal benutzte, wenn ihm meine Wortwahl nicht so gefiel.
»Sorry, hast ja Recht. Ich bin nicht ganz bei der Sache.«
»Weil du die Kekse haben willst. Man könnte meinen, du kommst nur wegen denen zu mir.«
Trotzdem reichte er sie mit einem Lächeln, das er peinlich berührt erwiderte.
»Nö, nicht nur. Du bist auch recht cool. Cooler als meine anderen Freunde.«
Henry besaß ein Motorrad. Es stand im Moment in dessen Garage, wo sie gelegentlich zusammen dran schraubten, aber im Sommer durfte er mitfahren. Das hatte ihm sein Freund jedenfalls felsenfest versprochen. Darum war Henry auch cooler: Er hielt seine Versprechen.
Im Gegensatz zu seinen unzuverlässigen Freunden, die ihn für ein Mädchen jederzeit sitzenlassen würden oder seinem Vater, der nie zu den abgesprochenen Zeiten vorbeischaute.
Er seufzte, bevor er mit geschickten Fingern die Packung öffnete. Henry paffte neben ihm still vor sich hin.
»Alles okay?«
»Ja. Nein. Keine Ahnung, ich blick beim Schach einfach nicht durch.«
»Deswegen üben wir«, meinte Henry, bevor der das Spiel wieder aufbaute, »mach dir also keine Gedanken darüber, dass ich meine Zeit mit dir verschwende oder du deine. Du machst das gut.«
Wenn sein Freund das sagte, musste es wohl stimmen. Ein weiterer Keks verschwand in seinem Mund, bevor er es sich bequem machte.
»Denkst du das wirklich?« Er brauchte die Gewissheit.
»Klar, warum sonst habe ich mir überhaupt eine E-Zigarette zugelegt? Weil ich so ein Gutmensch bin?«
So gut kannte er seinen gegenüber nicht, um das beurteilen zu können. Er fand schon, dass sein Freund zu den netten Menschen gehörte. Schulterzuckend eröffnete er das Spiel, während Henry ihn übers Brett hinweg angrinste.
»Dann sind wir uns ja einig.«
Schien wohl so.