„Lass uns ein Spiel spielen!“ Er biss sich auf die Unterlippe, während er diese Worte sprach.
Für einen Moment hielt Lasse mit dem Tippen inne. „Jetzt nicht“; entgegnete er, ohne seinen Sohn anzublicken. „Du bist doch nachher bei Lukas’ Geburtstagsparty, ich bin sicher, dass du da ganz viel spielen wirst.“ Verdammt. Er blickte auf den Bildschirm. Die Zahl in der Ecke sprang auf die 12. Sechs Stunden noch dann endete seine Frist.
Sein Sohn stand nur da, blickte ihn an.
„Ich will aber mit dir spielen“, murmelte er fast unhörbar, „und er heißt Lars.“
„Später, Johannes.“ Später. Es war immer später. Nur dieses später, das ihm sein Vater allzu oft versprach, schien nie zu kommen. Er blickte auf seinen Vater, der sich genauso wie er selbst nervös auf die Unterlippe biss und dessen Finger rasend schnell über die Tastatur hasteten. Daten und Buchstabenreihen, die er nicht verstand, jagten über den Bildschirm. Mit einem Seufzen wandte er sich ab und ging die Treppe hinunter.
Lasse bemerkte noch nicht einmal, dass sein Sohn gegangen war. Er sah nur die Uhr, die Stück für Stück weitertickte, ihm die Zeit für ein viel zu kurzfristiges Projekt stahl. Das schlechte Gewissen, das ihn nun zusätzlich vereinnahmte, konnte er wahrlich nicht gebrauchen. Er schob es davon und nahm sich vor, am nächsten Wochenende etwas Tolles mit dem Jungen zu unternehmen. Jetzt jedoch musste er sich auf das konzentrieren, was wichtig war. Johannes war ein kreatives Kind und würde sich schon selbst beschäftigen können.
Auf einmal klingelte es an der Tür. Lasse zuckte zusammen, blickte auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es kurz nach halb drei war. Auch sein Magen erinnerte ihn an die Uhrzeit. Rasch speicherte er die Datei, blickte auf seine Ergebnisse und bewegte sich dann rückwärts zur Treppe, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, um solange wie möglich, die Ergebnisse zu kontrollieren. Endlich wandte er sich ab, hastete die Treppe hinunter und lief durch den Flur zur Haustür, die bereits geöffnet war. Johannes stand da und unterhielt sich mit einem gleichaltrigen Jungen. Er war bereits fertig angezogen, hatte seinen Kindersitz unter den Arm geklemmt und blickte zu seinem Vater.
„Ich bin fertig, Papa“, meinte er leise und blickte zu Boden.
„Oh“, bemerkte Lasse ein wenig überrascht und zugleich erfreut wie unkompliziert sein Sohn sein konnte. „Sehr gut, Johannes.“
Er nickte der Mutter von Johannes’ Klassenkameraden zu, die die beiden zum Geburtstag bringen würde.
„Vielen Dank, dass Sie das tun“, meinte er und streckte der Frau seine Hand entgegen. Sie schüttelte sie.
„Sehr gerne.“
„Hast du alles?“, fragte er seinen Sohn.
„Ja.“ Johannes trat über die Türschwelle, zögerte, dann hob er kurz die Hand und winkte. „Tschüss Papa.“
„Auf Wiedersehen“, antwortete Lasse, „Viel Spaß.“
Ohne ein weiteres Wort stieg Johannes in das Auto ein, ließ sich von der Mutter seines Freundes anschnallen und unterhielt sich fröhlich mit ihm. Einen kurzen Blick warf er noch zur Haustür. Sie war zu. Nur der Türklopfer mit dem Löwenkopf sah ihm noch zu. Rasch wandte der Junge den Blick an, konzentrierte sich auf den Freund und dessen Lachen. Es war so viel einfacher, als an den Schmerz zu denken.
Die Buchstabenreihen rasten erneut über den Bildschirm Lasse ließ sich in den Schreibtischstuhl fallen, stürzte ein Glas Wasser hinunter und tippte erneut weiter. Kurz schüttelte er den Kopf über die Überschrift. Irgendwie hatte er noch keinen wirklichen Aufhänger finden können, der die Leser auch wirklich packte. Dabei war es genau das, was seinem neuen Chef so wichtig war. Aber jetzt, wo er wissen konnte, dass sein Sohn glücklich war, ging ihm die Arbeit viel leichter von der Hand.
Das Telefon klingelte. Für einen Moment gelang es Lasse noch das lästige Bimmeln zu ignorieren, die Worte einzufangen, die ihm soeben in die Gedanken gekommen waren. Er seufzte und nahm sich vor, seine Frau daran zu erinnern, den Stecker zu ziehen, nachdem sie telefoniert hatte. Sie wusste doch, wie sehr er seine Ruhe brauchte! Doch die Worte entschlüpften so schnell, wie sie gekommen waren. Mit einem Knurren gab er auf und griff nach dem Hörer.
„Hallo?“, meinte er kurz angebunden. Das Gegenüber sollte merken, dass er keine Zeit zum Telefonieren hatte. „Lasse Niesel.“
Seine Hände fingen an zu zittern. Blind tastete er nach einem Zettel, fegte dabei die Tastatur vom Schreibtisch, ohne es zu bemerken und krakelte eine Adresse hinauf.
Lass uns ein Spiel spielen. Immer wieder jagen diese Worte durch seine Gedanken. Lass uns ein Spiel spielen. Das Flehen in der Stimme seines Sohnes. Sie lässt ihn nicht los, als er die Treppe hinunterjagt, das Auto anlässt und durch den Nachmittagsverkehr fährt. Lass uns ein Spiel spielen. Tränen laufen ihm über das Gesicht, zeigen ihm eine Realität auf, die er nie erwartet hätte. Er blickt auf das Lenkrad. Einzelne Kerben ziehen sich durch das Leder, hineingeritzt von seinem Sohn, als er versucht hatte, ihn mit seinem Taschenmesser zu beeindrucken. Sein Gesicht. Das Muttermal an seinem Kinn. Die winzige Narbe in seinem linken Handteller. Die immer noch winzigen Füße. Das Lächeln, das ihn schon verzaubert hat, als er seinen Sohn das erste Mal gesehen hat. Die Hilflosigkeit in seinen Augen, als Johannes zum ersten Mal in seinem Arm gelegen hatte. Hilflosigkeit. Lass uns ein Spiel spielen. Auch das war Hilflosigkeit gewesen. Die Hilflosigkeit eines Junges, der keinen Vater gehabt hatte. Lasst uns ein Spiel spielen.
Hätte er nur ja gesagt.