Nigeria, 2014
„Mama! Mama.“ Ihr Lachen hallte durch die Savanne. Ein trockener Wind zerzauste ihre dunklen Locken, ließ sie vor Freude springen und jauchzen. Sie spürte das Gras unter den nackten Füßen, die dicken Halme, die an ihren Sohlen rieben. Die Stimme ihrer Mutter war weit hinter ihr, verschwamm mit den Geräuschen der Natur. Es war so leicht, hier zu lachen. So leicht Freude zu verspüren. Fasziniert beobachtete sie die Herde Gazellen, die weit in der Ferne graste, dort, wo die Sonne den Horizont küsste. Bald würde sie nach Hause gehen müssen, das wusste sie, aber noch genoss sie die Freiheit. In ein paar Tagen würde sie mit ihrer Mutter in ihr Dorf zurückkehren, deshalb hatte sie beschlossen so viel wie möglich zu ergreifen und zu genießen.
Unter einer Gruppe von Bäumen hielt sie inne, um ihrer Mutter eine Möglichkeit zu geben, sie einzuholen. Sonst machte das Verstecken ja keinen Spaß. Währenddessen sah sie sich nach einem guten Versteck um. Ob sie die Bäume hinauf klettern könnte? Nein. Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. Die unteren Äste waren zu dünn und die dicken zu weit oben, um sie zu erreichen.
Mit der Hand beschattete sie die Augen, um sich umzusehen. Was war das? In der Ferne meinte sie, eine Hütte zu erspähen. Ja. Glücklich lächelte sie. Das war ein gutes Versteck!
Einen letzten Blick warf sie über die Schulter. Sie sah den Kopf ihrer Mutter. Kichernd wandte sie sich ab und lief auf schnellen Füßen weiter.
Bald hatte sie die Hütte erreicht, die wiederum unter einer Baumgruppe errichtet war. Ein Zaun war darum gebaut, um die Tiere abzuhalten, allzu nah zu kommen. Die Hütte war alt, doch aus soliden Holzbohlen. Das Mädchen meinte sich daran zu erinnern, dass es hier in der Nähe ein weiteres Dorf geben sollte. Eine Blume wuchs im Schatten der Tür. Sie beugte sich hinunter und steckte sich die gelbe Blüte ins Haar. Ein letztes Mal blickte sie sich um, dann trat sie hinein.
Im Inneren war es dunkel. Rechts konnte sie soeben eine Feuerstelle erahnen. Der Geruch von kaltem Rauch stieg ihr in die Nase. Es war ein ihr wohlbekannter Duft, doch war eine Komponente darin, die sie irritierte. Still stand sie in der Dunkelheit und versuchte ihn zu ergründen. Dann erkannte sie es. Es roch nach Tod. Schon lange war das Lachen gewichen, hatte einer vorsichtigen Beschwertheit Platz gemachte. Atemzüge. Links von ihr. Dunkelheit. Eins. Zwei. Drei. Sie trat vorwärts.
„Hallo?“, fragte sie leise.
Keine Antwort. Noch ein Schritt. Dann noch einer. Die Atemzüge wurden lauter. Mit dem Fuß stieß sie gegen einen Gegenstand und als sie mit den Händen tastete, erkannte sie ein Bett. Und darauf lag jemand.
„Hallo?“, fragte sie noch einmal.
Ein Husten. Dann krächzte jemand.
„Geh weg!“ Die Worte waren kaum verständlich, so leise kamen sie.
„Warte!“ Das Mädchen wandte sich um und holte den Wasserschlauch, der neben der Feuerstelle gelegen hatte.
Vorsichtig trat sie wieder näher. Sie entfernte den Stöpsel und beugte sich über die Person. Der faule Atem strich ihr über das Gesicht, aber seltsamerweise verspürte sie keine Angst. Es war richtig hier zu sein und einer Person zu helfen, die zum Sterben zurück gelassen worden war. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie den Schlauch anhob und ihn vorsichtig an den Mund der Frau führte. Wasser lief hinaus, nässte ihre Hände und tröpfelte in den Mund. Die Frau schluckte gierig.
„Langsam“, flüsterte das Kind, ließ den Strom versiegen, um den Schlauch dann wieder zu senken. Sie trank, bis das Wasser leer war.
Dann wieder diese Worte. „Geh weg!“ Verzweiflung lag in ihrer Stimme. „Geh, Kind!“
„Nein!“ Sie stapfte mit dem Fuß auf. „Ich werde nicht gehen, bis dir geholfen wurde.“
Der schweißnasse Körper der Frau erbebte. Sie stöhnte.
„Geh, Kind und rette dich selbst!“
„Nein!“ Wie in weiter Ferne vernahm sie die leisen Rufe ihrer Mutter. Es schien ein anderer Ort zu sein. Draußen in der Steppe da rief die Freiheit, hier drinnen wartete nur der Tod.
„Wenn jeder nur sich selbst rettet, dann ist das kein Leben!“, protestierte sie erneut.
„Kind.“ Erneut lief Nässe über das Gesicht der Frau, doch dieses Mal, das wusste sie, waren es Tränen. „Ich danke dir.“
Das Mädchen ergriff die Hand der Sterbenden. Sie war heiß.
„Es ist der Tod, Mädchen. Du musst gehen.“ Immer wieder wiederholte sie es, gleich einer Beschwörung. Es waren die leisen, selten eingeworfenen „Danke“, die das Mädchen blieben ließen, dies und die Hilflosigkeit der Frau. Es machte sie traurig, dass niemand da war, um sich der Armen anzunehmen und sich um sie zu kümmern. Gerade während einer Krankheit brauchte es Licht und keine Dunkelheit.
„Sie haben mich hier zurückgelassen“, wiederholte die Frau, „Es ist ansteckend, du musst gehen.“
„Nein!“ Stattdessen wischte sie der Frau die Tränen ab, hielt ihre Hand und sang leise Lieder. Es waren dieselben, die sie in Licht und Sonneschein gesungen hatte. Warum sollte ein Leben denn dort draußen weniger wert sein als hier? Warum hatte diese Frau ein geringeres Recht auf Liebe als ihre Mutter, die das Mädchen abends mit Küssen überdeckte? Sie wollte Licht bringen in die Dunkelheit. Fast fühlte auch sie sich ein wenig fröhlich dabei. Zumindest war sie froh, dass die Frau am Schluss gelächelt hatte. Sie hatte es mit den Fingerspitzen nachgefühlt, nachdem die Atemzüge der Fremden verblasst waren.
„Leb wohl!“, flüsterte sie und schloss ihre Augen.
Dann schritt das Mädchen hinaus.
In der Tür blieb sie stehen, betrachtete mit einem Lächeln die Sonne, deren Farben den ganzen Horizont erfüllten. Rot küsste sich mit Orange, formte bizarre Muster in herrlichen Farben auf dem dunklen Himmel. Gleich würde das Licht verschwinden und die Welt in Dunkelheit getaucht werden. Doch das Mädchen wusste mit absoluter Gewissheit, dass am nächsten Morgen die Sonne wieder aufgehen würde.
Eine Stimme rief ihren Namen und ihre Mutter schloss sie in die Arme. Leise schimpfend redete sie auf ihre Tochter ein, doch diese blickte nur mit einen Lächeln zu ihr auf.
„Es ist alles gut, Mama. Ich habe nur das Licht gesehen.“
Ihre Mutter nickte und schob sie fort von dieser unheimlichen Hütte. Für einen Moment hatte sie geglaubt, dass ihre Tochter verschwunden gewesen wäre und sich Sorgen gemacht. Doch dann hatte sie diese in der Tür stehen gesehen, mit jenem verträumten Lächeln auf dem Gesicht, das sie mehr als alles andere liebte.
Eine Woche später fieberte sie.