Mit dem kleinen Finger schiebe ich die Brille wieder ein Stück höher auf die Nase. Ich bilde mir immer ein, dass der weniger mit dem ganzen Zeug hier in Kontakt kommt als die übrigen vier, und irgendwie muss ich die Brille ja positionieren. Die Maske, die ich mir über Mund und Nase gezogen habe, hilft nicht gerade dabei, sie an Ort und Stelle zu halten.
Nachdenklich mustere ich das Tier in dem Spezialkäfig vor mir. Er ist luftdicht verschlossen, die Atmosphäre im Inneren wird über eine Belüftungsanlage mit Filter ausgetauscht.
Seit der Injektion sind erst 24 Stunden vergangen, doch noch hat sich das Verhalten der Maus nicht wirklich verändert. Nun gut, ein wenig schon - sie läuft oft aufgeregt hin und her, immer an der Wand entlang, hinter der sie die anderen Versuchstierkäfige sehen kann.
Mäuse sind soziale Wesen, und es tut mir wirklich leid, sie einzeln halten zu müssen. Entgegen dem Bild, das große Teile der Öffentlichkeit von uns Forschern haben, ist mir und den meisten anderen hier das Wohlergehen unserer Tiere sehr wichtig. Wir haben zwar nicht viele Möglichkeiten, ihr recht bequemes, langweiliges Leben zu verschönern, aber wir geben uns Mühe - jeder auf seine Art.
Ich zum Beispiel sammle mit Hingabe im ganzen Gebäude leere Toilettenpapierrollen. Ich habe in jeder Toilette eine Sammelbox aufgestellt, sie mit einem Schild beschriftet, auf dem eine Maus mit Kulleraugen in die Kamera sieht und mein Anliegen auf Deutsch, Englisch und Französisch darunter erklärt. Regelmäßig gehe ich die Toiletten ab und sammle die Rollen, die tatsächlich hineingeworfen werden, in einem großen Plastiksack. Den verschließe ich dann sorgfältig und reserviere mir eine Zeiteinheit im Kalender des Autoklaviergeräts, um die Rollen zu sterilisieren. Danach bringe ich die Rollen in den Tierstall - je nach Menge der Rollen bekommt jeder Käfig, sonst wenigstens jede einzeln sitzende Maus eine der Rollen, um damit zu spielen, sich darin zu verstecken oder sie einfach nur kaputt zu nagen, ganz, wie es ihnen beliebt.
Jedes Tier hat seine ganz eigene Persönlichkeit.
Diese Maus hier ist eindeutig ein Versteckspieler. Sie verkriecht sich immer wieder in der Rolle - ob sie Schutz und Geborgenheit sucht?
In drei Tagen werde ich wissen, ob sie meine Behandlung überlebt hat. Dann kann ich versuchen, sie wieder mit anderen Mäusen zu vergesellschaften.
Hoffentlich überlebt sie.
Hoffentlich beißen die anderen sie nicht tot, sondern akzeptieren sie.
Es sind Inzuchtmäuse - genetisch sind sie alle quasi identisch. Sie riechen also auch alle gleich, oder zumindest ähnlich - eine Grundvoraussetzung, damit Mäuse in einer Gruppe toleriert werden. Dennoch kommt es manchmal zu Streit, der bisweilen auch tödlich endet.
Ich erhoffe mir viel von diesem Vorläuferexperiment. Insgesamt habe ich fünf Mäusen den Stoff injiziert, gegen den sie Antikörper produzieren können - die Zahl ist sehr gering, für das richtige Experiment werde ich mindestens viermal so viele Tiere brauchen - und Kontrolltiere.
Die Behandlung ist für die Mäuse an und für sich nicht gefährlich, doch das sogenannte Adjuvans, das man den Zellen zusetzt, der Stoff, der eine heftige Immunreaktion auslöst, ist alles andere als harmlos. Bei Menschen setzt man dieses Mittel schon lange nicht mehr ein, und auch in Deutschland ist es längst verboten. Hier jedoch ...
Um ehrlich zu sein weiß ich nicht, ob es hier verwendet werden darf. Mein Professor hat es mir in die Hand gedrückt und mich angewiesen, es zu benutzen. Er wird schon wissen, was hier möglich ist.
Oder doch nicht?
Er geht mit Tieren alles andere als respektvoll um.
Tja, diese Gedanken kommen mir leider zu spät. Die Mäuse hier haben das Adjuvans alle erhalten. Da sie genetisch so verändert wurden, dass sie ausschließlich gegen den Stoff, den ich ihnen gespritzt habe, Antikörper bilden können, sind sie möglichen Infektionen der Einstichstellen ziemlich schutzlos ausgeliefert.
Die Quarantäne dient nämlich nicht dazu, die übrigen Mäuse oder Experimentatoren vor ihnen zu schützen - sondern sie vor uns.
Nicht, dass ihr Überleben lange andauern wird. Ich benötige ihre Zellen für meine Experimente. Leider. Aber so ist das nun mal. So lange wir diese Dinge nicht im Reagenzglas oder gar Computer nachbilden können, sind wir auf Organismen wie diese Mäuse angewiesen.
Und ich töte sie möglichst schnell.
Bis dahin haben sie wenigstens die Toilettenpapierrollen.
Seufzend stelle ich den Käfig in den Spezialschrank zurück und nehme den nächsten heraus.
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Diese Geschichte ist im Rahmen der SiXTY-MiNUTES-Challenge entstanden. Die anderen Beiträge findest du hier: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/60328-sm-006-04-09-2019