„So, Herr Winter, setzen Sie sich doch.“
Etwas verunsichert musterte ich den Professor. Hat er doch noch eine Hiobsbotschaft für mich? Er wirkt allerdings nicht beunruhigt, ganz im Gegenteil.
Zögernd folge ich seiner Aufforderung und nehme auf dem Besucherstuhl, ihm gegenüber, Platz. Professor Dr. Alfred Schneider blickt nun in seinen Bildschirm und lächelt, als er wieder aufsieht.
„Wie fühlen Sie sich heute?“
„Besser, Herr Doktor. Viel besser.“
Ich will nicht wieder in die Quarantäne. Ja, ich weiß, es war wohl notwendig. Und mir geht es auch viel besser. Eigentlich.
Aber warum bekomme ich das Gefühl nicht los, das trotzdem noch nicht alles vorbei ist?
„Ihre Blutwerte haben sich weitgehend normalisiert. Noch ein paar Tage, und Sie können wieder nach Hause gehen.“
Ich schlucke.
Mein Heim wird mir einsam vorkommen. Ohne Martin.
„Was hatte ich denn, Herr Professor?“
Nun wird seine Miene ernster. „Ich kann es Ihnen leider nicht sagen. Sie scheinen sich in Ihrem Urlaub in Südafrika diese rätselhafte Tropenkrankheit eingefangen zu haben.“
Rätselhafte Tropenkrankheit? Mehr weiß er nicht?
Mein fragendes Gesicht spricht wohl Bände, denn er fährt fort: „Wir hatten dies schon einmal, vor etwa drei Wochen. Allerdings waren damals nur wenige betroffen und die örtlichen Ärzte erkannten nicht, wie gefährlich diese Krankheit war. Doch wir haben gelernt.“
Gefährlich, das glaube ich ihm aufs Wort. Ich erinnere mich noch zu sehr daran. Diese Ärzte, die nur in ihren Schutzanzügen zu mir kamen – gleich Astronauten auf dem Mond. Ja, so kam ich mir bisweilen vor – eingeklemmt und eingesperrt hinter Glas, ganz allein, ohne… ihn.
‚Gerd‘, hatte Martin gesagt, ‚halte durch. Du schaffst es. Das weiß ich.‘
Nun, wo ist er jetzt, da ich wieder über den Berg war? Verleugnet er mich?
Ich habe nichts von ihm, keine Adresse, keinen Nachnamen, nichts.
Nur die Erinnerung an diese Nächte – mit ihm.
Nein, es war nicht schön gewesen, die letzten Wochen.
Elend hatte ich mich gefühlt. Unendlich schwach. Und abwechselnd heiß und kalt.
Noch immer fühle ich mich irgendwie eisig, auch wenn meine Körpertemperatur sich wieder normalisiert hat. Dieses Gift ist immer noch in mir, ich spüre es.
Aber soll ich es dem Arzt sagen? Muss ich es sogar? Aber was ist dann?
Ich will nicht wieder tagelang eingesperrt werden. Auf dem Präsentierteller liegen.
„Wir müssen noch einige abschließende Untersuchungen machen. Die Medikamente können wir auch langsam ausschleichen“
„Und Sie wissen wirklich nicht, was ich hatte?“ Die Zweifel über meine Genesung behalte ich mal lieber für mich.
‚Gerd, sie haben keine Ahnung. Es ist alles ganz anders als in den Büchern.‘
Was hatte Martin nur gemeint?
„Es tut mir wirklich leid, Wir konnten den oder die Erreger noch nicht lokalisieren. Aber glauben Sie mir, das ist nur eine Frage der Zeit. Und Sie haben wirklich Glück gehabt – nur jeder Dritte überlebt dieses Übel. Sie haben wirklich eine hervorragende Konstitution, Herr Winter.“
Herr Schneider schaut wieder auf den Monitor. „Wenn sich alles so weiter entwickelt, können Sie nächsten Mittwoch nach Hause. Ihr Hausarzt kann Sie dann weiter behandeln.“
Ich sollte nicht fragen, das wäre sicher besser für mich, kann es aber dann doch nicht lassen. „Und ich bin nicht mehr ansteckend? Wegen meinem Vater, wissen Sie…“
‚Dein kranker Vater wäre ein guter Anfang. Du sagtest, er leidet…‘
„Ja, Sie erwähnten ja, dass Sie sich um ihn kümmern. Nein, keine Sorge. Wir wissen zwar noch nicht genau, wie die Krankheit übertragen wird, aber Sie sind seit einer Woche symptomfrei. Dann ist die Ansteckungsgefahr gebannt. Und unsere Behandlung hat sehr gut bei Ihnen angeschlagen – die Bluttransfusionen scheinen wirklich ein Allheilmittel gegen diese Krankheit zu sein.“
‚Sie verstehen es nicht, aber sie können dich behandeln, so dass du überlebst. Alles weitere wird sich fügen‘
Ich muss Martin einfach aus seinem Kopf bekommen. Seit es mir wieder besser geht, kommt langsam auch die Erinnerung zurück.
Martin war in Südafrika in Urlaub – so wie ich. Zumindest hatte er es behauptet.
Ich möchte es einfach nicht hinterfragen. Es ist schon schwierig genug für mich, im Alltag klarzukommen, seit Robert mich verlassen hat. Und einfach in entsprechende Etablissements zu gehen, dafür fehlt mir der Mut.
Martin hatte es wohl sofort gespürt – wie ich gestrickt bin. Und dass ich auf Männer stehe – so wie er auch.
Es war schön gewesen, mit ihm. Eine ganze Woche waren wir zusammen, haben uns die Sehenswürdigkeiten angesehen, Eis gegessen oder die örtlichen Restaurants besucht.
‚Ich werde dich besuchen, in Deutschland. Nur erzähle keinem von mir‘
Meine Urlaubsbekanntschaft kam mir bisweilen etwas seltsam vor, wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke. Vielleicht ist er ja selbst in einer Beziehung und wollte diese durch einen Flirt nicht gefährden?
Nein, dass darf nicht sein. Diese Vorstellung schmerzt.
Und außerdem haben wir nicht nur eine Nacht gemeinsam verbracht. So etwas tut man dann doch nicht?
Ja, Martin ist unglaublich zärtlich gewesen.
Lange dünne Finger, die langsam über meinen Rücken streichen. Küsse auf der Haut – nicht nur auf den Lippen, nein, auf dem Gesicht, auf der Brust – einfach überall. Meinen ganzen Körper hat er so beglückt.
Noch nie zuvor bin ich einem so sensiblen Mann begegnet.
Ich habe das Zimmer des Professors bereits verlassen. Und noch immer finde ich keine Ruhe aus dem Gedankenkarussell.
Für eine Krankenhauskantine ist das heutige Essen – Leberkäse mit Kartoffelsalat in Bratensoße – ganz annehmbar. Nun ja, vielleicht auch nicht die große Kochkunst.
Martin hat mich bereits zwei Tage vor meinem Abreisetag verlassen.
‚Es muss sein. Aber keine Sorge, ich finde dich, Gerd Winter. Unser Zusammentreffen war kein Zufall!‘
Wütend stopfe ich mir ein großes Stück Leberkäse in den Mund und tunke den Kartoffelsalat in die Soße.
Leere Worte! Verdammt, ich bin fast draufgegangen und kein Martin ist gekommen.
Ich war mir so sicher, dass da mehr war. Eine Verbundenheit, die ich bisher noch nicht gespürt habe.
Vor allem in dieser letzten Nacht.
‚Hab keine Angst, ich habe Erfahrung‘, hatte Martin in mein Ohr geflüstert und meinen Hals mit der Zunge abgeleckt.
Diese Aussage hatte mir kurz einen kleinen Stick gegeben. Dann trieb er es wohl öfters mit verschiedenen Männern?
Aber was anschließend kam – noch immer läuft mir ein prickelndes Schaudern über den Rücken, wenn diese Erinnerung hochkommt.
So wunderschön. Ich weiß nicht, wie ich dieses himmlische Empfinden beschreiben soll, als sein sanfter Biss kam. Mitten in den Hals. Und dann hat er auch noch daran gesaugt.
So fest, dass mir sogar etwas schwindlig wurde.
Vor Glück.