„Nein!“
Er schrie entsetzt auf, als der Ghul sich in Lutisanas Schulter verbiss. Der Anblick fuhr ihm bis ins Mark, verletzte ihn auf eine Weise, die ihm bislang völlig fremd gewesen war. Gerade noch rechtzeitig stoppte er den Dolchstoß, den er gegen das Wesen geschwungen hatte – würde er es jetzt durchbohren, könnte er auch seine Kampfgefährtin treffen!
Noch während der abgelenkte Dolch nur den Rücken des Ghuls streifte, holte er mit dem rechten Arm bereits wieder aus. Seine Finger schlossen sich kraftvoll um den Griff des Rapiers, erwarteten den Widerstand des untoten Fleisches, der Knochen, die es zu durchtrennen galt. Er mochte nur über eine Stichwaffe verfügen, doch wenn Phex seine Hand führte, würde er die entscheidende Stelle treffen. Selbst Ghule waren darauf angewiesen, dass ihr Rückgrat intakt war.
Es dauerte nur einen Lidschlag lang, die in ihm wohnende göttliche Macht anzuzapfen. Er war schon so viele Jahre Geweihter, dass er diese Übung im Schlaf beherrschte – doch dieses Mal wollte er keine Liturgie wirken. Er hatte sein Leben zwar Phex geweiht, doch er hatte auch Kontakt zum Rest des Pantheons, und er wollte ihre geballte Macht nun gnadenlos nutzen. Die Zwölfe hassten Untote – und dieses Mal wollte er ihren Hass in sich spüren, wollte ihn in seinem Stich kanalisieren. ‚Phex, hilf!‘, sandte er ein stummes Stoßgebet an seinen Gott – dann stieß er zu.
Seine Klinge drang unterhalb der rechten Rippen schräg in den Körper des Ghuls ein, drang fast widerstandslos durch das wabbelige, widerlich stinkende Fleisch, bis sie in der Körpermitte auf Knochen traf – und ihn sauber durchtrennte! Der Untote verlor die Kontrolle über seinen Leichnam, fiel mit einem ungläubigen Schrei, der seine Zähne aus Lutisanas Schulter löste, zu Boden.
Talfan ließ den Körper achtlos von seiner Klinge gleiten. Seine Augen waren fest auf Lutisana geheftet, die mit einem Schmerzensschrei hinten über kippte und hart auf dem Felsboden aufschlug.
Mit einem Satz war er an ihrer Seite, ließ seine Waffen achtlos fallen und kniete neben ihr nieder. Sanft umschloss er ihre Hand, zog sie von der grässlichen Wunde fort, die in ihrer Schulter klaffte. Das Blut, das aus der Wunde strömte, durchtränkte ihr Hemd im Takt ihres rasenden Herzschlags immer weiter und weiter. Entschlossen riss er es weiter auf, um besseren Zugang zu haben, und presste seine Hand fest auf die Stelle.
Lutisana stöhnte gequält auf, und er ergriff ihre unverletzte Hand und drückte sie. Das genügte, um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Er berührte andere Menschen derartig selten, dass er mit dieser Geste mehr aussagen konnte als mit Worten, und die Erkenntnis drang sogar durch den Schleier aus Schmerz bis in ihr Bewusstsein vor. Er lächelte, als ihr Blick seinen fand, nun wesentlich klarer als zuvor.
„Wenigstens hat es die Richtige getroffen“, presste sie mit einem gezwungenen Lächeln hervor. Sie war ihm zur Seite gestellt, um auf ihn aufzupassen – dass der Ghul sie statt ihn erwischt hatte, verbuchte sie offenbar als Erfolg.
Sie sah an allem immer das Positive.
Zu Beginn war sie ihm fürchterlich auf die Nerven gegangen. Ihre extrovertierte, laute, freche Art widerstrebte ihm, und er hatte sich mehr als einmal gefragt, warum Phex ihm ausgerechnet solch eine Person als Leibwache gesendet hatte. Doch sie war noch viel mehr. Sie war ausgesprochen aufmerksam, auch, wenn sie nicht so wirkte. Schon mehr als einmal hatte sie ihm ungefragt einen guten Rat erteilt – mittlerweile bat er sie häufiger um ihre Meinung. Sie war ihm eine gute Kampfgefährtin geworden und das, was einer Freundin am nächsten kam.
Der Wundarzt drängte ihn beiseite, und er machte bereitwillig Platz, informierte die anderen, die nun in die Höhle geströmt kamen, über die Geschehnisse. Ein Teil seines Verstandes wachte jedoch stets über ihren Zustand.
Als der Arzt seine vorläufige Behandlung abgeschlossen hatte, half Talfan ihr, aufzustehen. Sie bestand darauf, die Höhle ohne Hilfe zu verlassen, und er drängte sie ihr nicht auf, blieb jedoch stets in ihrer Nähe.
„Was ist los?“, erkundigte Treufalk sich leise, als sie durch den Gang wieder nach draußen traten. Auch er war einer seiner Reisegefährten, ein hervorragender Fechter, mit dem er so manches Übungsduell ausfocht. Treufalk hatte er einen Teil von sich offenbart, den er vor anderen verborgen hielt, was auch ihn zu einem seiner Vertrauten machte. Und auch Treufalk war ein aufmerksamer Beobachter – und neugierig. „Was veranlasst Euch dazu, ihr gegenüber eine Ausnahme zu machen?“
Sein Kopfnicken in Lutisanas Richtung war überflüssig, Talfan wusste auch so, was gemeint war: Warum blieb er jetzt in ihrer Nähe, wo er die Nähe zu Menschen doch üblicherweise mied?
Die Antwort war einfach. Sie hatte ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt. Natürlich war das Teil ihres Auftrags, doch es wirklich zu tun war etwas anderes als es nur anzukündigen. Sie beide verband nun viel mehr als eine bloße Vereinbarung, sogar mehr als der Auftrag eines Gottes.
„Blutsbande“, antwortete er lächelnd. Und Treufalk verstand.
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Die Handlung dieser Geschichte findet während des (leider noch unveröffentlichten) dritten Abenteuers meines Rollenspielcharakters Talfan statt. Wer mehr über ihn erfahren möchte, kann hier bei seiner Hintergrundgeschichte anfangen: https://belletristica.com/de/books/16195-talfan-desidero-von-vascagni/
Diese Geschichte entstand im Rahmen der SiXTY-MiNUTES-Challenge. Die Beiträge der anderen Teilnehmer sind hier gesammelt: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/60806-sm-007-08-09-2019 - Lesen lohnt sich!