"Wann kommst du an?" Seine Nachricht reißt mich aus meinen Gedanken. Ich dachte ich hätte ihm die genaue Zeit schon geschrieben, aber ich kann mich auch täuschen. "Um 19.52 Uhr" Ich tippe schnell, so als könnte ich damit die Zeit bis zu unserem Wiedersehen verkürzen. "Jetzt hast du noch die Chance, falls du es dir anders überlegt hast" füge ich hinzu. Dann noch einen Smiley. Ich hoffe nicht, dass er es sich anders überlegt.
Ich hole die Klatschzeitschrift aus meiner Tasche, die ich mir am letzten Bahnhof gekauft habe. Mein Magen rumort, denn an etwas zu essen habe ich natürlich nicht gedacht. Vielleicht essen wir ja später zusammen. "Keine Chance, ich freu mich auf dich." Kommt seine Nachricht zurück. Ich atme aus. Mein Herz flattert in meiner Brust, ob aus Erleichterung oder aus Panik weiß ich nicht genau. Die Zeitschrift ist mir beim Lesen deiner Nachricht vom Schoß gerutscht und ich hebe sie behutsam auf. Sie muss mich die nächste halbe Stunde von dem ablenken, was als nächstes kommt, denke ich. Ich drehe sie um, um von hinten mit dem Lesen anfangen zu können, denn so mache ich das immer. Meine Finger haben dicke, nasse Flecken auf der Rückseite hinterlassen und ich wische sie mit meinem Ärmel weg. Noch 23 Minuten sind es, bis ich ankomme. Ich versuche den ersten Artikel zu lesen aber die Worte verschwimmen in meinem Kopf zu einem unverständlichen Brei. Ich hole mein Ticket wieder raus um noch mal nachzusehen, an welchen Bahnhof ich genau aussteigen muss, obwohl ich es auswendig weiß. Auch die Zeit weiß ich mittlerweile auswendig. Noch 20 Minuten. Der Schaffner kommt. Er kennt mich schon und will mein Ticket nicht noch einmal sehen. Er schaut etwas mitleidig zu mir rüber. Ich sehe wahrscheinlich aus, als würde ich zur Schlachtbank geführt. Dabei ist ja eigentlich das Gegenteil der Fall.
Ich packe die Zeitschrift wieder in meinen Koffer und schaue aus dem Fenster. Ich denke an unsere letzte Begegnung und mein Herz macht wieder diesen altbekannten Sprung. Ob irgendetwas anders ist dieses Mal? Wir haben uns zu lange nicht mehr gesehen und ich bin mir nicht sicher was passieren wird, wenn wir es tun. Noch 15 Minuten.
Ich könnte eigentlich schon mal zum Ausgang vorgehen. Ich habe schließlich lange genug gesessen. Ich packe meine Wasserflasche ein und überlege es mir gleich wieder anders. Ich will ja nicht aussehen, wie ein Packesel, wenn er mich abholt. Ich kann seine Stimme schon hören "Was hast du denn alles wieder eingepackt? Hast du Steine da drin?" Ich muss lächeln. Noch 12 Minuten.
Ich beobachte die anderen im Abteil, als ich meinen kleinen Koffer langsam hinter mir her in Richtung Ausgang ziehe. Wo sie wohl alle hinfahren? Ob es andere gibt, die genauso nervös sind wie ich? Ob sie sich freuen, endlich zu Hause zu sein? Ob sie wohl nur umsteigen? Noch 8 Minuten.
Ich bin kurz vor einem Nervenzusammenbruch, als der Zug am Bahnhof ankommt. Ich überlege mir, ob ich meinen Mantel wieder anziehen soll und meine sorgfältig ausgewählten Sachen darunter verstecke oder es riskieren soll zu frieren. Bevor ich entscheiden kann geht die Tür auf und ein kalter Wind kommt mir entgegen. Meine Jacke hängt noch über meinem Arm. "Na toll" denke ich. Ich steige vorsichtig die 2 Stufen runter und passe auf, dass sich meine Absätze nicht in den Löchern verfangen. Das wär's jetzt noch, wenn ich vor ihm die Treppe runter stolpern würde.
Ich stehe auf dem Bahnsteig und sehe mich um. Er ist nicht da und Panik macht sich breit. Der Wind pfeift durch meine Haare, so dass sie an meinem Lipgloss kleben bleiben. Ich streiche sie mir aus dem Gesicht und versuche sie irgendwie hinter meinen Ohren festzuklemmen, aber es will mir nicht so recht gelingen. Als ich endlich mit dem mühevollen Unterfangen fertig bin, sehe ich ihn. Er steht einfach nur da und lächelt mich an. Ich kann mich auf einmal nicht mehr bewegen. In ein paar Schritten ist er bei mir und schließt mich in seine Arme. Ich vergesse alles außer ihn und seine Nähe. Ich bin zu Hause.