Jeden morgen sehe ich sie im Bus: Sie ist groß und schlank, immer stilvoll gekleidet und hat wunderschöne lange, goldglänzende Haare. Fast jeder im Bus schaut zu ihr hin....Sie ist einfach eine tolle Erscheinung.
Das einzige, das das Gesamtbild stört, ist ihr fehlendes Lächeln. Sie schaut eher abwesend, fast traurig drein.
Ich muss immer an sie denken, ihre traurigen Augen verfolgen mich jeden Tag. Wie ein Virus hat sie von mir Besitz ergriffen, ich kann gar nichts dagegen tun.
Heute habe ich mir aber fest vorgenommen, mehr über sie herauszubekommen...ich will einfach wissen wer sie ist, wer weiß, vielleicht trinkt sie sogar einen Kaffee mit mir.
Wie immer steigt sie am Ignatzius Krankenhaus aus. Ich schnappe mir meinen Rucksack und folge ihr.
Sie betritt das Krankenhaus und fährt mit dem Aufzug in die Onkologie.
Wahrscheinlich arbeitet sie hier, oder besucht einen schwerkranken Angehörigen.
Sie setzt sich ins Wartezimmer und ich fasse mir ein Herz und spreche sie an:
"Hi, ich bin Oliver. Wir kennen uns aus dem Bus. Ich weiß, es sieht blöd aus, aber darf ich mich zu dir setzen?"
Verschämt fahre ich mir durch meine Haare.
Und tatsächlich...sie lächelt mich an und zeigt auf den Stuhl neben ihr.
"Ich bin Emma und es muss dir gar nicht peinlich sein. "
Erleichtert setze ich mich neben sie.
"Hast du Lust auf einen Kaffe?", frage ich sie. Ihre Augen schauen mich nun durchdringend an. Gefühlte fünf Stunden sitzen wir so da, dabei sind es nur einige Sekunden. Diese Frau hat mich ganz und gar infiziert.
"Besser, ich verrate dir vorher mein Geheimnis", flüstert sie leise und noch ehe ich etwas erwidern kann, fasst sie sich in ihre blonden Haare und schiebt sie sich zurück. Es ist eine Perücke! Ihren Kopf bedeckt nur ein leichter Flaum an Haaren.
Wie eine Fieberwelle durchströmt es heiß meinen Körper.
"Ohne Haare bist du noch schöner!" flüster ich zurück.
Ihre Augen lächeln mich an.