„Weißt du, Mama? Ich habe mich schon seit Jahren gefragt, wann dieser Tag kommt“, bemerkt Corinna.
„So?“ Ich blicke sie an.
„Ja. Ich war älter, aber seien wir ehrlich, Finja ist auch viel vernünftiger als in dem Alter.“
Ich schmunzle, als ich einen Blick auf meine Enkelin werfe, die sich hochkonzentriert selbst die Schuhe zubindet.
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
Corinna schmunzelt ebenfalls. „Vielleicht hast du ja doch Recht.“
„Ich bin fertig“, verkündet Finja, stemmt die Arme in die Hüften und sieht zu den beiden Erwachsenen auf. „Kommt ihr jetzt endlich?“ Sie läuft zur Haustür, versucht sie schwungvoll zu öffnen und scheitert wiederum an dem Gewicht. Die Klinke entgleitet ihrer Hand und die Tür fällt ins Schloss.
Für einen Moment zieht sie eine Schnute, dann setzt sie weder jenen resoluten Gesichtsausdruck auf, den ich so an ihr liebe. „Ohne euch funktioniert der Ausflug aber nicht!“ Sie stapft mit dem Fuß auf.
„Nein.“ Corinna nimmt meine Enkelin an die Hand, in der anderen hält sie ein Paket, und öffnet die Tür.
„Nach dir, Mutter.“
„Danke.“ Ich trete in die kühle Abendluft. Ein leichter Wind weht, als wir uns auf den Weg machen. Wir gehen zu Fuß durch die Kleinstadt, in der wir leben, bis nach außerhalb. Finja beschwert sich nicht ein einziges Mal, sondern hüpft fröhlich neben uns her, was mich sehr stolz macht.
Der Hügel liegt über der Stadt, so dass man einen wunderbaren Ausblick hat. Hinter uns plätschert ein Bach, vor uns breitet sich unsere Heimat aus. Die Abendsonne spiegelt sich in den Fenstern und bringt die Fassaden zum Leuchten. Dort unten gehen jetzt die Fernseher an, werden die Autos in die Garagen gefahren und Familien lassen sich zum Abendessen nieder. Hier dagegen ist es still. Nur die Vögel durchbrechen die Stille, spielen ihr ganz eigenes Lied. Selbst Finja ist verstummt, ihre Augen nehmen jede Einzelheit der Aussicht wahr. Ich trete an die alte Eiche, die sich immer noch stur an den Abgrund klammert, unbesiegt, ungebrochen, auch wenn immer mehr von der Erde, auf der sie steht, durch Wind und Witterung abgetragen werden. Kleine Finger schieben sich in meine Hand. Ich lächle.
„Das sieht so schön aus“, murmelt sie ehrfurchtsvoll. Ihr Haar glänzt in der Abendsonne und ich kann nicht anders, als hinüber zu streichen, auch wenn sie es hasst. Dieses Mal sagt sie nichts.
„Komm.“ Wir treten vom Abgrund zurück und gehen zu Corinna, die auf der grünen Wiese sitzt und den Sonnenuntergang beobachtet.
Finja lässt meine Hand los, um meiner Tochter auf den Schoß zu kriechen. Obwohl mein Körper protestiert, als er die Nässe des Rasens spürt, setze ich mich dazu und sehe zu meiner Enkelin. Sie ist müde, aber aufmerksam.
„Finja“, meine ich, „Dieser Ort hier ist für mich sehr besonders.“
Sie nickt. „Wieso?“
Ich lächle, als die Erinnerungen mich wieder in eine sanfte Umarmung nehmen.
„Weil ich hier deinen Großvater kennen lernte.“
„Erzähl, Oma!“ Ihr Gesicht ist dem meines Geliebten so ähnlich, dass ich für einen Moment schlucken muss. Sie hat ihn nie kennen gelernt. Er ist gestorben, als Corinna nur wenig älter als sie war.
Wieder einmal war Bobby abgehauen. Ich hatte ihn nur kurz aus den Augen verloren und schon war er fort, vermutlich einem Kaninchen nach. Warum hatte ich ihn nur von der Leine gelassen? Ich wusste doch, wie er reagierte. Um mich herum ist die Wiese weit überschaubar, doch vielleicht ist er den Pfad entlang gesprintet, der auf den Hügel führt.
Als ich oben angekommen bin, bin ich völlig außer Puste. Zu meiner Erleichterung entdecke ich meinen ungezogenen Hund tatsächlich. Ohne mich zu beachten, lässt er sich von einem Mann durchkraulen, der hier tatsächlich eine Staffelei aufgebaut hat.
„Bobby!“, rufe ich. Er sieht kurz auf, dann dreht er mir den Hintern zu und lässt sich auf den Rücken fallen.
„Verzeihung.“ Der Mann scheint mich erst jetzt bemerkt zu haben. „Ich wollte dem Hund nichts Böses. Er kam einfach angeschossen und hat mir meine Farben umgeworfen.“
„Oh!“ Ich sehe die Flecken in Bobbys Fell und den umgestoßenen Eimer mit den Farben. „Das tut mir wirklich leid.“ Ich streiche mir nervös eine Strähne aus dem Gesicht und trete näher heran.
„Ist schon in Ordnung“, meint er beschwichtigend, „Sie haben einen tollen Hund.“
„Danke“, murmle ich leise und trete noch ein Stück näher.
„Warten Sie“, ruft er auf einmal. „Genau so.“
Verwirrt bleibe ich stehen und mustere den Pinsel, den er in der Hand hält.
„Ein Stück nach Rechts, bitte.“ Auch wenn ich nicht weiß warum, tue ich, was er sagt.
„Ja.“ Er lächelt mir aufmunternd zu. „Sie sind wunderschön, Madame, und ich würde sie gerne malen.“
„Oh.“ Ich beiße mir auf die Lippen. „Eigentlich sollte ich nach Hause, es ist schon spät.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Madame. Ich bringe Sie nach Hause, wenn sie wollen. Ich mache alles, was sie wollen, wenn Sie nur stehen bleiben.“
„In Ordnung.“ Ich nicke. Dieser Mann scheint zwar ein bisschen zerstreut, aber sehr nett und vernünftig zu sein.
Der Hintergrund ist wirklich schön und auch ich finde mich gerade ziemlich hübsch in dem neuen Sommerkleid. Ich betrachte ihn, während er malt. Er ich höchstkonzentriert, was mir gefällt und hat eine ruhige Hand, die jeden Strich behutsam setzt. Die Zeit vergeht schnell, während er malt und ich ihn nur ansehe. Als er mir sagt, dass er fertig sei, kommt es mir vor als erwache ich aus einem Traum.
„Kommen Sie!“ Er winkt mich heran. Zögernd komme ich näher und blicke ihm über die Schulter. Es ist atemberaubend. Er hat mich vor der Eiche stehend gemalt, wie ich nachdenklich zur Seite schaue, während sich hinter mir die verschwommene Silhouette einer Stadt abzeichnet. Das Bild ist noch nicht ganz fertig, die Farben des Hintergrundes fehlen noch, doch selbst das Bisherige ist unglaublich. Bin ich wirklich so schön? Ich betrachte die Züge, die er mir gegeben hat. Ja, es ist die Wirklichkeit und doch scheint es mir mehr zu sein, als wäre es ein Traum von einer viel schöneren Realität.
„Das ist unbeschreiblich“, verleihe ich meinen Gefühlen wahrheitsgemäß Ausdruck.
„Es ist nur die Wahrheit“, gibt er zurück.
„Nein.“ Ich schüttle den Kopf. „Sie sollten ausgestellt werden, Ihre Bilder sollten der ganzen Welt bekannt werden.“
„Vielleicht“, bemerkt er, „Doch ist mir die einzelne Erinnerung so viel mehr wert als Ruhm.“ Er nimmt das Bild in die Hand und stumm betrachten wir beide es. Auf einmal ertönt hinter uns ein Bellen. Bobby springt auf, als er den anderen Hund hört und läuft dem Künstler dabei so unglücklich vor die Füße, dass er stolpert und dabei das Bild verliert.
„Alles in Ordnung?“, frage ich besorgt und will das Bild soeben aufheben, als ein kleiner weißer Hund mitten darüber läuft.
„Nein!“ Ich schüttle entsetzt den Kopf, fast kommen mir die Tränen, als ich den schlammigen Pfotenabdruck sehe, der mitten auf dem Bild zu sehen ist.
„Es tut mir leid“, flüstere ich, überzeugt davon, dass alles meine Schuld ist.
Er nimmt es mir aus der Hand, dann fängt er an zu lachen.
Verwirrt mustere ich ihn.
„Erinnerung“, entgegnet er auf meine Frage. „Andere mögen ein zerstörtes Kunstwerk sehen, aber mich wird es für immer an die wunderschöne Frau erinnern, der ich hier begegnet bin und die so unglaublich natürlich war.“
„Wie heißen Sie?“, frage ich ihn und sehe ihn zum ersten Mal wirklich in die Augen. Sie sind grün wie das Frühlingsgras und besitzen einen wunderschönen, goldenen Schimmer.
„Sie dürfen mich Tobias nennen.“
„Maike.“
Er nimmt formvollendet meine Hand und gibt mir einen Handkuss.
„Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen.“
Ich grinse und beginne kurz darauf zu lachen.
„Mir ebenfalls“, gluckse ich und beschließe die Erinnerung an diesen Tag niemals loszulassen.
„Das war dein Großvater“, erkläre ich Finja.
„Ich mag Opa“, bemerkt sie mit einem seligen Lächeln, „Ich wünschte, ich hätte ihn kennen gelernt.“ Sie wirkt so erwachsen in diesem Moment und ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, heute hierher zu kommen. Ich nicke meiner Tochter zu, die Finja das Paket reicht.
„Das ist für dich, mein Schatz.“
Es berührt mich, dass Finja kurz zu mir blickt und erst als ich nicke, das Geschenk aufmacht. Ihre Augen strahlen, als sie über den Bilderrahmen streicht und jenes Bild der Erinnerung mustert.
„Danke, Oma“, flüstert sie.
„Und du hast Recht. Es ist kein zerstörtes Bild, sondern Erinnerung.“
Mein Blick verliert sich in den Blättern des Baumes, den letzten Farben des Sonnenunterganges. Erinnerung. Sie liegt in diesem Ort, aber auch in dem fürsorglichen Lächeln meiner Tochter und den aufmerksamen Augen meiner Enkelin. Die Vergangenheit, das weiß ich, ist soeben der Gegenwart begegnet und hat den Weg für die Zukunft bereitet. Wer weiß, vielleicht wird in zwanzig Jahren wieder ein Kind ein Geschenk auspacken. Vielleicht wird es gar ein Erbstück werden. Für mich jedoch wird es eine simple Erinnerung bleiben. Eine Erinnerung, die einem wunderschönen Traum gleicht, aus dem ich niemals aufwache. Erinnerung an meinen Ehemann.