„Bitte, kann ich nicht hin? Das ganze Dorf spricht davon. Panahe war auch schon dort!“ Seine kleine Schwester zupfte der Mutter aufgeregt am Ärmel. „Ich will sie sehen.“
„Kommt gar nicht in Frage!“, donnerte ihr Vater. „Du bleibst hier! Es reicht, wenn Anron dorthin muss!“
„Aber Panahe…“, quengelte Daerille weiter, wurde aber unterbrochen: „Schluss damit. Du weißt, dass sie viel älter ist als du. DU bleibst schön hier und wartest auf die Rückkehr deines Bruders!“
Erst jetzt wandte sich der alte Mann direkt an seinen Sohn. „Ich wollte, ich könnte es vermeiden. Aber du weißt selbst, dass es Hochverrat gleichkäme, gingst du nicht!“
Anron nickte. „Mach dir keine Sorgen.“
Falkar, sein Vater, schüttelte resigniert den Kopf. „Ich bete zu den Göttern, dass sie dich nicht auswählen.“
„Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Schon seit Jahrzehnten wurde keiner mehr aus unserem Dorf erwählt“, versuchte ihn der junge Mann zu beruhigen. "Du wirst sehen, schon bald bin ich wieder zurück.“
„Hoffen wir’s. Wann wirst du aufbrechen?“
Anron zögerte kurz, ehe er antwortete: „Am besten gleich. Je eher ich gehe, desto eher bin ich wieder zurück.“
Es war zwei Stunden später, als er das Lager der Reiter erreicht hatte. Zögernd brachte er seinen alten Gaul zum Stehen. Er fühlte sich mehr als deplatziert, zwischen all den gut gerüsteten Kriegern. Obwohl es bereits kurz vor Mitternacht war, konnte er sehr gut die wertvoll polierten Metallplatten erkennen, die das Mondlicht reflektierte.
Eine gelangweilte Wache maß ihn mit abschätzigen Blick. „Name?“ Dabei machte sich der Mann nicht mal die Mühe, sein Gähnen zu unterdrücken.
„Anron Jensam!“ Er würde sich nicht einschüchtern lassen und versuchte deshalb, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
„Beruf?“, wurde weiter gefragt, während ein anderer Soldat daneben die Antworten offensichtlich in ein Buch eintrug.
„Schmiedes Sohn!“
„So, ein Schmied also. Wenigstens nicht der x-te Bauer, den wir hier sehen. Du dürftest eh der letzte sein. Bringen wir es hinter uns, damit wir hier endlich fertig sind!“
Das waren ja gute Aussichten. Aber ja, eigentlich hatte der Mann recht. Das alles hier war eh unnütz. Wer wollte ihn Anron Jensam, schon?“
Nun näherte sich ein Krieger ihrer Gruppe. An der Art der Rüstung erkannte Anron sofort, dass es sich um einen der legendären Reiter handelte. Da dieser seinen Helm unter dem Arm trug, erkannte er auch, dass der Neuankömmling mittleren Alters war. Wache Augen musterten ihn interessiert. Zumindest, soweit Anron es erkennen konnte.
„Ich bin Tamreg! Komm mit.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, hatte sich der Krieger bereits wieder umgedreht und lief in die Richtung, aus der er gekommen war. Anron blieb also nichts anderes übrig, als hastig hinter ihm herzustolpern.
Nun würde er also zum ersten Mal in seinem Leben diese gefährlichen Kreaturen aus nächster Nähe betrachten können.
Tamreg führte ihn durch das Lager, dann ziemlich abseits, bis sie zu den hohen Felsen kamen, die er seit seiner Kindheit kannte.
„Warte einfach hier“, befahl sein Führer. „Wenn sich nach einer Stunde nichts tut, kannst du nach Hause gehen.“
Ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln, verschwand der Krieger auch schon wieder.
Wo war er da nur hingeraten! Diese Männer waren seltsam. Er würde froh sein, wenn dieses ganze Theater vorbei war. Allein hier im Dunkeln zu stehen, war nicht gerade besonders erbauend. Gut, dass es wenigstens Vollmond war und er so wenigstens etwas erkennen konnte.
Wo waren diese königlichen Wesen? Auf dem Felsen?
Neugierig streckte er seinen Hals nach oben und scannte die Steine ab. Leider konnte er nicht alles deutlich sehen – aber er hätte doch ihre Schatten erspäht, wenn sie dort oben wären? Sie waren ja einiges größer als die Menschen, da musste man sie doch wahrnehmen? Oder etwa nicht?
Noch etwa eine Viertelstunde blickte er sich weiter suchend um und war bemüht, kein Geräusch oder Bewegung zu übersehen. Schließlich gab er es auf und setzte sich vorsichtig ins Gras.
Es würde sicher nichts mehr passieren. Noch wie verlangt bis zur vollen Stunde warten, dann konnte er gehen. Er zog die Beine dicht an sich ran, legte den Kopf auf die Knie ab und schloss die Augen.
Er konnte später nicht mehr sagen, ob er tatsächlich eingeschlafen war oder einfach zu müde gewesen war. Wie denn auch sei, plötzlich spürte er ein seltsames Schnaufen in seiner Nähe zusammen mit der Präsenz eines großen Körpers, der sich ihm langsam näherte.
Erschrocken riss er die Augen auf und sprang panisch auf.
Und erblickte Raven das erste Mal.
Das besondere an dem Lindwurm waren seine Augen. Gelb, riesig und im Aussehen typisch für ein Reptil, durchbohrten sie ihn geradezu. Im Kontrast dazu stand die Farbe seines restlichen Körpers. Feuerrote Schuppen, die eng am Körper anlagen und glänzten, als habe der Drache gerade ein Bad genommen. Anron hatte davon bereits in Erzählungen gehört – aber noch nie war er einem dieser Kreaturen tatsächlich Angesicht in Angesicht gegenübergestanden.
Unsicher beobachtete er das Wesen, welches nun ganz nahe war.
War er ein gutes oder schlechtes Zeichen, dass der Schwanz immer abwechselnd nach links und rechts pendelte? War das Freude wie bei einem Hund oder Ablehnung wie bei einer Katze?
Der Drache legte den Kopf schief, was Anron schlucken ließ.
Weshalb hatte man ihm keinen Leitfaden gegeben, wie man sich gegenüber den Drachen verhalten sollte?
Plötzlich hörte ihn sprechen. „Ich bin Raven! Steig auf“.
Hören war dabei eigentlich nicht das richtige Wort. Die Kreatur war in seinem Kopf. Eine raue und rauchige Stimme, die einen leicht spöttischen Unterton zu haben schien. Gleichzeitig winkelte die Kreatur die vorderen Beine an, so dass sie nun kniend vor ihm saß.
Anron spürte, wie ihm der Schweiß in den Rücken lief. Wie konnte das sein? Er war nie und nimmer ein Drachenreiter. Das konnte nicht sein!
Trotzdem konnte er es nicht verhindern, dass sein Körper wie von selbst diesem Befehl folge leistete. Schon stand er ganz dicht bei Raven und suchte einen Weg auf dessen Rücken. Dieser hatte die Schuppen leicht aufgestellt – oder war das immer so – und so fand er guten Halt zwischen ihnen. Ehe er es sich versah, war er schon oben auf dem Drachen.
Wie groß mochte dieser Lindwurm sein?
Er war nicht gut darin zu schätzen. Auf jeden Fall recht groß. Anron hatte sich nie für besonders klein gehalten – aber nun schien er zu einer winzigen Person geworden zu sein, die aber dank einer seltsamen Mulde auf dem Rücken des Drachens einen erstaunlich guten Halt gefunden hatte. Natürlich trugen dazu auch die Kanten der Schuppen bei, an denen er sich gut festhalten konnte.
„Dann wollen wir mal. Halte dich fest, Menschlein.!“ telpathierte Raven erneut, ehe er langsam seine Schwingen ausbreitete.
Erst langsam, bewegte er sie schließlich immer schneller, bevor er sich mitsamt seiner neuen Fracht in die Lüfte erhob.
Ein sanfter Flug, direkt dem Mondlicht entgegen.
Es sollte einer von vielen werden. Unendlich vielen.