So wirklich Lust habe ich schon den ganzen Tag nicht. Ich musste am Vormittag arbeiten, mich durch einen Stau auf der Autobahn kämpfen, hatte zuhause gerade mal 15 Minuten Zeit für mich, bevor meine Freunde vor der Tür standen, um mich abzuholen.
Jetzt sitze ich seit fünf Stunden in diesem Kleinbus, den Michel fröhlich durch den dichten Verkehr lenkt und sich dabei angeregt mit Jenny auf dem Beifahrersitz unterhält. Alles, was ich will, ist meine Ruhe - dabei sind wir schon lange gut befreundet und hatten uns sehr auf diesen Ausflug, unseren "Miniurlaub", wie wir es nannten, gefreut. Aber die letzten Tage haben mich ausgelaugt - Weihnachten im Kreise der Familie ist leider bei Weitem nicht so erholsam, wie nostalgisch angehauchte Werbemomente einem das immer vorgaukeln. Und bei der Arbeit war zwischen den Jahren die Hölle los.
"Hey, Alex, aufgewacht, wir sind da!"
Jennys Worte lassen mich hochschrecken. Ich habe höchstens für einen Moment die Augen zugemacht! Aber egal - wir sind tatsächlich endlich angekommen.
Es ist schon 19 Uhr, und der Parkplatz des Freizeitparks ist immer noch voll. Die Möglichkeit, bis ins Neue Jahr hinein Achterbahn zu fahren, gefällt wohl nicht nur uns.
Als Michel zielstrebig am Parkplatzeingang vorbeifährt, frage ich irritiert: "Hättest du da nicht rein müssen?"
Er lacht. "Oh nein! Wir übernachten doch im Hotel, da gibt es gesonderte Parkplätze - wir haben heute Nacht VIP-Status!"
Jennys beifälliges Johlen entlockt dann auch mir endlich ein Lächeln. Egal, wie erschlagen ich mich fühle, es wird sicherlich ein lustiger Abend.
Wir verlassen den Aufzug, der uns von der Tiefgarage herauf gebracht hat, und betreten die Lobby des Hotels. Ich war noch nie hier und staune mit offenem Mund über das Dekor. Es sieht wahrhaftig so märchenhaft aus, wie die beiden mir schon immer vorgeschwärmt haben! Runde, lange Bambushölzer verkleiden die Wände und finden als Raumtrenner Verwendung, die dazwischengesteckten grünen Blätter wirken sehr echt. Das Licht ist gedimmt, verschiedene Bäume stehen in großen Kübeln überall in der Halle, bunte, leichte Tücher hängen unter der Decke und verleihen dem ganzen Raum die Illusion eines großen Baldachins im Freien. Bildschirme hinter einigen Bambuswänden zeigen Zebraherden in scheinbarer Ferne vorbeiziehen, der köstliche Duft gebratenen Essens zieht vom Themenrestaurant durch den Raum, und leise afrikanische Musik untermalt die Atmosphäre auf eine unaufdringliche, angenehme Art und Weise. Für einen kurzen Moment fühle ich mich tatsächlich in ein Afrika versetzt, wie es in meiner Phantasie existieren könnte.
"Na, endlich lächelst du auch mal!", sagt Michel zufrieden und schlägt mir erfreut auf die Schulter. "Ich wusste, das hier würde dir gefallen! Komm, checken wir ein und bringen unsere Sachen auf die Zimmer."
Gesagt, getan. Auf dem Weg zu den Zimmern bewundere ich die Dekoration der Gänge - auch hier hat man sich sehr viel Mühe gegeben, den Afrikamythos aufrecht zu erhalten. Die Liebe zum Detail ist wunderschön, und mehr als einmal verlangsame ich meinen Schritt, um mir eine Vitrine, ein Wandbild oder einen komplexeren Aufbau genauer ansehen zu können.
Nach derartig viel Staunen kommt mir das Zimmer selbst fast schon ein wenig lieblos vor. Natürlich, es ist schön und passt vom Stil her zum Thema, aber hier fehlt die Liebe zum Detail. Aber egal - hier werde ich mich ohnehin nur zum Schlafen aufhalten. Ich lasse meinen Rucksack unzeremoniell auf den Boden fallen und gehe zurück in Richtung Lobby, um mich mit den beiden anderen zu treffen.
Am verabredeten Blumenkübel treffe ich auf Jenny, die schon unsere Eintrittsarmbänder organisiert hat. Der Blick, den sie immer wieder durch die Halle schweifen lässt, wirkt leicht unruhig.
"Was ist los? Glaubst du, Michel hat sich verlaufen?", frage ich scherzend.
Sie lacht. "Zuzutrauen wär's ihm! Aber ... ah, da sind sie ja." Jetzt sieht sie sehr zufrieden aus. Unwillkürlich drehe ich mich in ihre Blickrichtung. Und starre.
"Hey, mach den Mund zu!" Jenny gibt mir grinsend einen Ellbogenstoß in die Seite. "Wir dachten, du freust dich und siehst nicht aus wie ein Karpfen!"
Eilig bemühe ich mich um ein neutrales Gesicht. Michel kommt nicht alleine. Neben ihm, in eine Plauderei vertieft, geht mein absoluter Schwarm, die Person, die ich seit Wochen, ach was, Monaten gerne näher kennenlernen würde.
Mein Herzschlag beschleunigt sich spürbar, und möglichst unauffällig wische ich meine Handflächen an meiner Hose ab, als die beiden uns erreichen.
"Hi Jule!" Ich hoffe, mein Lächeln sieht nicht halb so dämlich aus, wie es sich anfühlt.
"Alex! Wie schön, dich zu sehen!"
Oh Gott, hoffentlich werden meine Wangen nicht so rot wie sie sich anfühlen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Michel und Jenny sich ein Grinsen zuwerfen. Was haben die sich nur dabei gedacht?
Mein fragender Blick wird sofort mit einem breiten Grinsen und einer ganz sicher nur halb wahren Aussage beantwortet.
"Na, dann lasst uns mal losziehen! Wir dachten, wir sollten unbedingt zu viert sein, Alex, denn sonst hat man in der Achterbahn immer irgendwelche fremden Leute neben sich sitzen. A propos Achterbahn - auf geht's, wir wollen uns ja nicht nur die Beine in den Bauch stehen!" Voll Tatendrang zieht er los, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.
Vier Achterbahnfahrten später. Ich stehe in der Schlange vor einem Pizzaverkauf. Die anderen haben sich für Burger entschieden und essen längst, aber hier gibt es irgendwelche Schwierigkeiten. War ja klar.
Ich träume von den belanglosen, aber netten Plaudereien, die ich in den letzten Stunden geführt habe. Jule sucht das Gespräch mit mir ganz von sich aus, ich muss mir gar keine dummen Sprüche einfallen lassen, um eine Unterhaltung anzufangen. Dass ich jetzt warten muss, ärgert mich ungemein. Wie viel lieber würde ich weiter über den letzten Marvelfilm diskutieren ...
Verstohlen schiele ich zum von den anderen besetzten Tisch hinüber. Jules blonder Haarschopf leuchtet unter der roten Mütze hervor und reicht fast bis auf die Schultern. In Kombination mit der schwarzen Jacke sieht das fast wie eine Deutschlandflagge aus ... wie eine sehr attraktive Deutschlandflagge.
Ich rücke eine weitere Position näher in Richtung Essensausgabe.
Meinen nächsten Blick in Richtung des Tisches bereue ich sofort. Jule hat den Burger verspeist und leckt sich genüsslich die Finger ab ...
Schnell wende ich mich wieder der Essensausgabe zu. Die Gedanken, die mir sonst durch den Kopf schießen und sich in meiner Gesichtsfarbe niederschlagen, will ich nicht nach außen zeigen.
"Hey, Alex, darf ich mal?" Jules Stimme direkt neben mir. Oh. Großartig.
"Hm?" Überrumpelt drehe ich mich um und starre in diese beeindruckenden grünen Augen.
Dieses Lächeln! "Die Servietten. Du stehst genau davor."
Oh, Scheiße. "Äh, natürlich!" Rasch trete ich einen Schritt zur Seite.
"Darf ich dir ein bisschen Gesellschaft leisten? Du stehst hier ganz alleine und wirkst so abwesend."
Konzentriert bleiben, Alex!
"Klar, gerne. ... Und, wie gefällt dir der Abend bislang so?"
"Oh, sehr gut! Ich freu mich schon besonders auf die Fahrt um Zwölf - das wird spektakulär mit dem Feuerwerk über uns!" Jules Augen leuchten vor Begeisterung und stecken mich direkt an.
"Ich bin auch schon echt neugierig. Dauert ja nicht mehr lange." Ich erlaube mir ein offenes Lächeln.
Einen kurzen Augenblick zögert Jule, beißt sich auf die Unterlippe.
"Du, Alex ... magst du mit mir fahren? Ich meine, bei der nächsten Fahrt?"
Sofort schlägt mir das Herz wieder bis zum Hals. Diese Achterbahnfahrten drücken die, die nebeneinander sitzen, so fest aufeinander, dass es schon fast als sexuelle Belästigung zählt.
Wenn man dem anderen nicht so nahe sein möchte.
Aber ich gäbe alles Mögliche dafür, Jule so nah zu kommen. Und ... wenn ich das hier richtig interpretiere, könnte das auf Gegenseitigkeit beruhen?
"Ähm ... ja, klar." Scheiße, das klingt zu uninteressiert! "Ich meine, gern. Echt gern." Diesmal ist es mir egal, dass ich rot werde, als ich lächle.
Auch Jules Wangen überzieht eine leichte Röte, und dieses Mal blitzt Freude in den grünen Augen auf. "Das ist toll. Ich freu mich drauf. Das wird ein unvergesslicher Mitternachtsritt."
Jules Finger streifen meine, und ich nehme mir ein Herz und schließe meine Hand um sie. Sie werden mir nicht entzogen, bis meine Pizza fertig ist - doch in meinem Bauch flattern so viele Schmetterlinge, dass mein Hunger völlig vergessen ist.
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Diese Geschichte entstand als Teil der SiXTY-MiNUTES-Challenge zum Stichwort "Mitternachtsritt". Die anderen Geschichten lohnen sich definitiv auch - du findest sie alle hier: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/63424-sm-009-18-09-2019