Mit einem Lächeln nahm Abraxas eine Tasse Tee von Hermine entgegen. Dafür, dass sie laut eigener Aussage noch nie einen Salon geleitet hatte, machte sie sich ausnehmend gut als Gastgeberin. Sie begrüßte jeden Neuankömmling persönlich, stellte unverbindliche, aber einnehmende Fragen, fand rasch für jeden Schüler einen Tisch, an dem er oder sie sich mit den Tischnachbarn gut verstehen würde und hatte trotzdem noch die Zeit, stets für Teenachschub zu sorgen. Und die ganze Zeit lächelte sie dabei so höflich und mühelos, als habe sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. Dies war definitiv nicht die Hermine Dumbledore, die er bisher kennen gelernt hatte.
Abraxas konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob sie noch mehr vor ihren Mitschülern verborgen gehalten hatte. Bisher hatte sie vor allem gezeigt, dass sie intelligent und magisch extrem begabt war, dass sie sich wenig um Traditionen kümmerte und ganz offensichtlich ihren eigenen Kopf durchzusetzen gedachte. Es waren genau diese Eigenschaften gewesen, die sofort sein Interesse und sehr bald danach seine Zuneigung geweckt hatten. Wie nur war es ihm entgangen, dass sich zwischen Tom und ihr eine Romanze angebahnt hatte? Gewiss, er hatte sie längere Zeit gemieden, doch das war nur geschehen, weil Tom selbst deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, wie wenig er von Hermine hielt. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen in dieser Zeit und soweit er es beurteilen konnte, hatte sich an ihrer Ablehnung Tom gegenüber nichts geändert. Und wenn er seinen Freund richtig einschätzte, hatte dieser auch stets eher genervt von Hermines forscher Art gewirkt. Nun waren sie ein Paar.
Sein Blick wanderte zu Professor Slughorn, der am Tisch nebenan mit seinem eigenen Geschick als Gesprächsleiter die anderen Gäste unterhielt. Es war offensichtlich, dass Slughorn große Stücke auf Hermine hielt. Eine weitere Tatsache, die Abraxas verwirrte. Sein Hauslehrer war nicht bekannt dafür, sonderlich viel von Frauen zu halten. Natürlich war er ein vollendeter Gentleman und stets darum bemüht, dass sich Frauen in seiner Gegenwart wohlfühlten. Doch von ihren akademischen Fähigkeiten hielt er zumeist wenig, was sich im Unterricht und an der Art der Gespräche, die er mit ihnen zu führen pflegte, zeigte. Hermine gegenüber schien er jedoch aufrichtiges Interesse zu zeigen, wie er es zuvor so nur bei Tom selbst erlebt hatte. Sie hatte also gleich zwei Männer um ihren Finger gewickelt, die normalerweise nicht gerade für ihr Interesse an Frauen bekannt waren.
Seufzend nahm Abraxas einen Schluck aus seiner Teetasse. Er war froh darüber, dass die anderen Schüler an seinem Tisch so in ein Gespräch vertieft waren, dass seine Schweigsamkeit nicht weiter auffiel. Ein Platz war noch frei und Abraxas war sich sicher, dass Hermine diesen für Tom vorgesehen hatte, sollte dieser später noch erscheinen. Wenn es nach ihm ging, konnte Tom auch gänzlich fern bleiben. Er war noch nicht bereit, ihm nach dem Vorfall am Morgen wieder unter die Augen zu treten. Warum hatte er sich nur dazu hinreißen lassen, Hermine einen Einblick in seine Gefühle zu gestatten? Und warum hatte Tom genau in jenem Moment auftauchen müssen? Was war am Abend zuvor geschehen? Die Geschichte, dass Hermine vor Erschöpfung zusammengebrochen war, nahm er keinem der beiden wirklich ab. Zu auffällig war, dass Avery kurz vor Tom im Gemeinschaftsraum aufgetaucht war und ohne ihn zu grüßen direkt im Schlafsaal verschwunden war. Was war wirklich passiert? Was verschwieg Tom vor ihm? Warum schwieg Hermine?
Seine Aufmerksamkeit wurde kurzfristig abgelenkt, als Professor Dumbledore den zum Salon umgewandelten Klassenraum betrat. Stumm beobachtete Abraxas, wie Hermine ihn warm begrüßte und sogleich an einen Tisch mit jüngeren Slytherin-Schülern führte, die sich offensichtlich mehr als unwohl fühlten, ausgerechnet mit diesem Professor zu höflichen Gesprächen gezwungen zu werden. Also hatte sie ihren Onkel tatsächlich dazu überreden können, einer privaten Veranstaltung von Slytherin beizuwohnen. Beeindruckend.
Konnte er es riskieren, Tom zu fragen, wie es zu der Beziehung mit Hermine gekommen war? Er wusste inzwischen, dass Tom Geheimnisse vor ihm hatte, dennoch vertraute er ihm. Sie waren so viele Jahre lang schon Freunde, und obwohl Tom mit der Gründung ihres kleinen Verschwörerkreises aus der Rolle des Freundes raus und in die Rolle des Anführers rein getreten war, war Abraxas sich sicher, dass sie immer noch genauso gut befreundet waren wie zuvor. Er wollte der kleinen Stimme in seinem Innern, die ihm wiederholt sagte, dass mit Tom etwas nicht stimmte, einfach kein Gehör schenken. Tom hatte es nicht verdient, dass ausgerechnet er, sein loyalster Freund, an ihm zweifelte. Sicher, Tom konnte manchmal wirklich angsteinflößend sein, und seine Art, wie er Unwillen oder Verachtung zum Ausdruck brachte, hatte ihm schon das ein oder andere Mal den Schweiß auf die Stirn getrieben. Aber trotzdem: Tom stand für alles, woran er glaubte. Er würde ihn einfach fragen. Es war doch völlig normal, dass ein Mann sich für das Liebesleben seines besten Freundes interessierte.
„Ah, Mr. Riddle“, unterbrach da die helle Stimme von Hermine seine Gedanken: „Wie schön, dass Sie es tatsächlich noch einrichten konnten.“
Augenblicklich wurde es ruhig an allen Tischen. Es war immer wieder faszinierend, wie Tom einfach nur einen Raum betreten musste, um sofort die Aufmerksamkeit aller Schüler zu haben. Überrascht stellte Abraxas fest, dass Peter Nott an Toms Seite stand und griesgrämig seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Hermine auch Peter einladen würde, denn soweit er es beurteilen konnte, waren beide einander nie offiziell vorgestellt worden.
„Hermine, Liebes“, erwiderte Tom mit seinem schönsten Lächeln und ergriff ihre Hand: „Es ist doch nicht nötig, dass du so förmlich bist. Es gibt keinen Grund, dass wir uns verstecken.“
Mit angehaltenem Atem beobachtete Abraxas, wie Tom auf eine offensichtlich überraschte Hermine zutrat, ihr einen Kuss auf die Wange drückte, und dann an die übrigen Schüler gerichtet fortfuhr: „Liebe Freunde, ich stehe vor euch als der glücklichste Mann auf dieser Erde. Unsere hochgeschätzte Miss Dumbledore ist seit heute nicht länger nur eine Mitschülerin für mich, sondern meine Freundin. Ich bin mehr als gesegnet, dass ich jedem anderen Mann zuvorgekommen bin im Ringen um ihre Aufmerksamkeit.“
Für Abraxas war es offensichtlich, dass Hermine wenig von dieser öffentlichen Zurschaustellung ihrer Beziehung hielt, doch sie fing sich schnell und lächelte warm zu Tom auf: „Im Gegenteil, Tom, ich bin gesegnet, dass der intelligenteste Schüler von Hogwarts mich überhaupt bemerkt hat.“
Einen Augenblick lang schien es, als versuchten beide, den anderen darin zu übertrumpfen, sich warm und verliebt anzulächeln, dann unterbrach Tom den Blickkontakt und trat einen Schritt zur Seite: „Hermine, darf ich dir meinen guten Freund Peter Nott vorstellen? Ich war so frei, ihn an deiner Stelle einzuladen, da ich unbedingt wollte, dass all meine guten Freunde bei unserem ersten öffentlichen Auftritt dabei sind!“
Hermines Augen flackerten, als sie die Hand von Peter ergriff, und soweit Abraxas das beurteilen konnte, war auch Peter nicht sonderlich begeistert, ihre Bekanntschaft zu machen, doch keiner von beiden ließ sich wirklich etwas anmerken.
„Abraxas«, flüsterte da die neben ihm sitzende Beatrix: »Wusstest du davon?“
Langsam drehte er sich zu ihr um: „Von Hermine und Tom? Ja, in der Tat, ich habe es heute Morgen erfahren.“
Es war offensichtlich, dass seine Mitschülerin die Welt nicht mehr verstand: „Wie kann er nur? Ausgerechnet diese Dumbledore. Es gibt doch wohl kaum ein unanständigeres Mädchen hier. Und sie ist Amerikanerin!“
Unbehaglich zuckte Abraxas mit den Schultern: „Ich bin ebenso verwundert wie du, doch ich werde Tom sicher nicht in Frage stellen.“
„Ich wette, sie hat ihm einen Liebestrank eingeflößt!“, zischte Beatrix, während sie sich zu Rufus neben ihr umwandte: „Mr. Lestrange, was halten Sie von dieser neuen Beziehung?“
„Es steht mir nicht zu, ein Urteil über Toms Vorlieben zu fällen“, kam die knappe Antwort, doch der Blick, den Abraxas von Rufus auffing, sprach eine andere Sprache: Er war ebenso verwirrt über diese Beziehung, insbesondere da beide nur zu genau wussten, wie negativ sich Tom bei ihren geheimen Treffen stets über Hermine geäußert hatte. Abraxas fragte sich, ob Rufus im Gegensatz zu ihm selbst den Mut hatte, Tom direkt in Frage zu stellen. Es wäre dankbar, wenn nicht er selbst die unangenehmen Fragen stellen müsste.
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„Bist du dir ganz sicher?“
„Ignatius, wie oft denn noch?“, fuhr Augusta ihren älteren Freund wütend an: „Ich mag Orion Black nicht gut kennen, aber so abwehrend, wie er wurde, als ich nach Riddle gefragt habe, habe ich ihn noch nie gesehen. Er hat von außerschulischen Aktivitäten gesprochen und deutlich gesagt, dass ich nicht so neugierig sein soll. Für einen auf Anstand und Höflichkeit bedachten Mann wie ihn ist das so dermaßen direkt und unhöflich, dass es einem alles sagt, was man wissen muss.“
„Außerdem hast du doch überhaupt erst angefangen mit dem Verdacht!“, mischte sich Markus ein: „Wieso jetzt die Zweifel?“
Kopfschüttelnd schaute Ignatius seine beiden Freunde an. Er war schon dankbar, dass Augusta so geistesgegenwärtig gewesen war, ihr Gespräch mit Orion erst darzulegen, als sie Zeit und Ort gefunden hatten, wo wirklich niemand sie stören konnte. Die Mädchentoilette, auf der sie gerade beisammen saßen, war seit dem Tod von Myrte zwei Jahre zuvor nicht mehr genutzt worden. Ein idealer Ort für jeden, der Geheimnisse hatte.
„Ich möchte nur einfach vorsichtig sein“, erklärte er schließlich geduldig: „Riddle hat etwas an sich, das mir auf ganz unerklärliche Art und Weise Angst macht. Wirklich Angst. Ich will einfach nur so viel wie möglich wissen und keine voreiligen Schlüsse ziehen.“
„Sie stimmen mir doch zu, oder, Mr. Longbottom?“, richtete Augusta das Wort an Markus: „Sie finden die Art, wie Mr. Black auf meine Fragen reagiert hat, auch merkwürdig?“
Markus nickte eifrig: „Ja, Miss Bargeworthy, absolut. So, wie Sie die Unterhaltung geschildert haben, ist es offensichtlich, dass Mr. Black etwas über Mr. Riddle weiß, was er lieber geheim halten will.“
Ignatius seufzte. Er dachte ja genauso wie die beiden, doch gerade deswegen fühlte er sich plötzlich noch schlechter als zuvor. Unruhig wanderte er vor den zerbrochenen Spiegeln an den Waschbecken auf und ab: „Versteht ihr denn nicht, was ich meine? Hier geht es um mehr als das Brechen von Schulregeln. Riddle hat irgendetwas gegen Hermine Dumbledore in der Hand, mit dem er sie zwingen kann, sich seinem Willen zu fügen. Und er hat offensichtlich einen so bleibenden Eindruck auf Black hinterlassen, dass der in Panik gerät, wenn man auch nur Fragen über Riddle stellt. Da steckt ... mehr dahinter.“
Schweigen breitete sich zwischen den drei Freunden aus. Es schien, als wäre Markus und Augusta erst jetzt aufgegangen, dass sie es wirklich mit einem gefährlichen Schüler zu tun hatten. Markus, der ein wenig blass um die Nase wirkte, ergriff als erster wieder das Wort: „Denkst du… meinst du, Miss Bargeworthy ist in Schwierigkeiten, weil sie Fragen gestellt hat?“
Ignatius unterbrach seine Schritte. Was sollte er darauf sagen? Natürlich war genau das gerade seine Hauptsorge, aber er konnte schlecht offen darüber sprechen, während Augusta selbst anwesend war. Er hatte sie in diese Situation gebracht, es war an ihm, jede Sorge und jede Gefahr von ihr fernzuhalten. So selbstsicher wie möglich erwiderte er: „Nein. Aber du solltest nicht wieder mit Mr. Black sprechen, Augusta. Ich glaube, wenn du zu beharrlich und neugierig bist, könnte das schon Verdacht erregen.“
„Ach, papperlapapp!“, schnappte Augusta: „Ich wusste schon vor dem ersten Gespräch, dass das Ganze nicht ganz ungefährlich ist. Denkst du, ich mache jetzt einen Rückzieher?“
Wütend packte Ignatius sie am Arm: „Ich meine es ernst! Ich verbiete dir, weiter irgendwelche Fragen an Slytherinschüler zu stellen!“
Empört richtete Augusta sich auf: „Du hast mir gar nichts zu verbieten. Ich brauche keinen Gentleman, der mich beschützt, vielen Dank, das kann ich selbst!“
Jetzt mischte sich auch Markus ein. Mit einem finsteren Ausdruck auf dem Gesicht griff er nach der Hand, mit der Ignatius die jüngere Schülerin festhielt: „Du bist grob zu Miss Bargeworthy, Ignatius. Lass sie los.“
Genervt folgte dieser der Aufforderung: „Jaja, großartiger Zeitpunkt, den Gentleman zu spielen. Hast du sie nicht gehört? Sie braucht keinen Beschützer!“
„Was ist denn los mir dir?“, verlangte Augusta zu wissen, die sich unbewusst den Arm dort rieb, wo Ignatius sie festgehalten hatte: „Warum bist du so aggressiv? Du hast das Ganze angefangen.“
„Ganz genau!“, fuhr er sie an: „Ich habe euch in Gefahr gebracht. Und ich werde dafür sorgen, dass ihr beide nicht weiter darein gezogen werdet. Ich werde selbst mit Miss Dumbledore sprechen und danach entscheiden, was ich tue. Ihr zwei haltet euch da raus.“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, kam es entrüstet von Markus, der mit verschränkten Armen an einem Waschbecken lehnte: „Du erwartest, dass wir stumme Zuschauer sind, obwohl wir wissen, was los ist? Wir haben bisher alles zu dritt gemacht, das ändert sich jetzt ganz bestimmt auch nicht. Und überhaupt. Professor Dumbledore ist hier, Schulleiter Dippet ist hier. Wovor genau hast du Angst?“
Ignatius atmete einmal tief ein und aus, um zu verhindern, dass er wieder nur eine hitzige Antwort gab. In ruhigerem Tonfall erklärte er: „Dass Professoren anwesend sind, hat auch nicht verhindert, dass Myrte gestorben ist, oder? Genau hier. Und niemand weiß, was passiert ist. Oder zumindest sagen die Professoren nichts. Die Schule wäre beinahe geschlossen worden deswegen.“
Ein sichtbarer Schauer lief Augusta über den Rücken, doch sie ließ sich davon nicht beeindrucken: „Aber das wurde doch geklärt. Das war dieser … Hagrid und seine Riesenspinne. Das hatte nichts mit Riddle zu tun.“
„Das ist nicht der Punkt“, erwiderte Markus, der sofort verstanden hatte, worauf sein Freund hinaus wollte: „Der Punkt ist, dass so etwas überhaupt passieren konnte, ehe ein Professor einschreiten konnte. Hogwarts ist sicher vor Angriffen von außen, aber was im Inneren geschieht, das kann niemand vollständig kontrollieren.“
„Danke“, nickte Ignatius: „Genau das meinte ich. Ich traue es Riddle zu, dass er, wenn er wirklich will, die Regeln brechen kann, ohne dass es bemerkt wird. Genauso kann jedem Schüler jederzeit ein … Unfall geschehen, ohne dass es auf jemanden zurückzuführen wäre, wenn Riddle nur will.“
Entschlossen stemmte Augusta ihre Fäuste in die Hüften: „Dann dürfen wir eben keine Unfälle haben. Wir müssen einfach gegenseitig aufeinander aufpassen. Ignatius, bitte. Wir können dich da nicht alleine lassen, gerade weil es gefährlich sein könnte. Du wirst eh nicht verhindern können, dass wir uns einmischen.“
Lange starrte Ignatius aus dem Fenster, doch schließlich nickte er: „Meinetwegen. Ihr zwei seid einfach zu stur. Aber ich werde erst mit Miss Dumbledore sprechen und versuchen, mehr aus ihr herauszubekommen. Vorher macht keiner von euch irgendetwas, verstanden?“
„Verstanden!“